Detox
„War echt schön, gestern Abend. Sollten wir irgendwann wiederholen! 😊 (Theresa)
Der Leichnam liegt immer noch im Durchgang, der normalerweise von einer elektrischen Automatiktür verschlossen wird. Jemand hat eine blaue Plane darüber geworfen.
Gerade erklärt ein Laborangestellter der Kommissarin, an was in der Einrichtung geforscht wird. Natürlich trägt er einen weißen Kittel und eine Nerd-Brille. Wissenschaftler tragen immer solche Sachen.
Weiter hinten im steril wirkenden Labor stehen sich ein Dutzend Computerterminals gegenüber. Auf den Displays, die das grelle Neonlicht spiegeln, laufen Dialoge in atemberaubender Geschwindigkeit herunter.
„Ich fands auch richtig gut!!! 💝💝“ (Julia)
„Die KI-Forschung hat in den letzten Jahren einen enormen Schub erfahren“, erklärt der Typ gestelzt. Völlig klar, dass er die Kommissar-Tussi beeindrucken will. Ich gähne und greife zur Tageszeitung, während ich noch mit halbem Ohr zuhöre.
Den Wissenschaftlern ist es offenbar gelungen, den Intellekt historischer Personen aus den Hirnaktivitäten ihrer Nachkommen zu interpolieren. Da jeder Mensch die Persönlichkeiten seiner Vorfahren in sich vereint, können moderne KI-Modelle aus den Messungen der Hirnströme nur weniger, entfernt verwandter Personen nahezu jedweden ihrer Ahnen rekonstruieren.
Ich denke kurz darüber nach, dann tippe ich „Von mir aus jederzeit wieder!
😉“ in mein Handy und drücke auf „Senden“.
Die Zeitung ist von gestern und berichtet im Wesentlichen von den Aktivitäten der ewig Gestrigen. Ein Artikel auf der zweiten Seite beschäftigt sich mit den angekündigten Maßnahmen der näheren Zukunft.
„Gottseidank nur die üblichen Einschränkungen“, denke ich – „Ich hätte wohl viel mehr Probleme damit, wenn ich auf die Schnelle noch eine Party mit 50 Personen besuchen und dann zwanghaft bis Mitte Februar noch einen Skiurlaub buchen müsste.“ Begeistert über mein vermeintlich gelungenes Bonmot, klappe ich den Laptop auf und öffne die Online-Kommentarseite der Zeitung, um ein paar Likes abzustauben.
„👍👍👍“ (Alex)
Der Idiot – fast hätte er gestern alles vermasselt, schießt es mir durch den Kopf. Ich richte meinen Blick vom kleinen zurück auf das große Display, auf dem John und Richard gerade in ihren Terminaldisplays darüber streiten, was einen guten Song ausmacht.
„Und immer dieses verdammte Motiv“ denke ich, und brumme den Flug der Walküren.
„Können die Dinger eigentlich ins Internet?“ fragt jetzt die Kommissarin. Die Schauspielering erinnert mich ein bisschen an Theresa und ich prüfe bei Google, ob ich ein paar Nacktbilder von ihr finde. Erfolglos. Mein Groll auf Alex wächst.
„Aber nur, wenn sich alle wie Erwachsene benehmen.
😉“, tippe ich in die virtuelle Tastatur.
Der Kittelträger verneint die Frage. Es bestehe lediglich eine Verbindung zum Labornetz – schließlich würden die Server jede Nacht neu gestartet und aktualisiert, um die neu trainierten Modelle aufzuspielen. Dass die Automatiktüren im selben Netz hängen, erwähnt er nicht.
„Dann sollten wir aber auch nur Erwachsenenspiele spielen. 😜“ (Theresa)
Ich stöhne auf und blättere die Zeitung auf meinem Schoß um: die Leserbriefe. Ich nehme mir vor, mich nicht aufzuregen. Wolfgang O. schreibt, dass 5G Hodenkrebs verursacht und von geheimen Mächten entwickelt wurde, um die deutsche Bevölkerung systematisch unfruchtbar zu machen und langfristig auszurotten.
„Kein Problem - wenn sich alle an die Regeln halten!!!
😢“ (Alex)
Ich denke darüber nach, Alex ein neues 5G-Smartphone zu schenken.
Im Labor demonstriert der überraschend merkbefreite Angestellte gerade, wie ein Neustart der Systeme vonstatten geht: Nach wenigen Sekunden, in denen die üblichen, kryptischen Meldungen über die Terminals laufen, beginnen Albert und Gaius Julius eine rege Diskussion darüber, ob Gott nun würfelt oder nicht.
„Jetzt streitet euch nicht, wir hatten doch alle Spaß! 😇“ (Julia)
Nachdem auch nach 5 Minuten noch niemand eine Empfehlung für meinen Online-Kommentar abgegeben hat, klicke ich auf den Abmelden-Button, klappe ich den Laptop zu und atme tief durch.
„Wir schon!
😉“ (Theresa)
Ich knülle die Zeitung mit beiden Händen zusammen und werfe sie in den Kamin. Das Streichholz ritscht über die Reibefläche und eine kleine Flamme züngelt zerbrechlich in den leeren Raum meines Wohnzimmers. Versonnen betrachte ich den gelb leuchtenden Finger, dann werfe ich den brennenden Span ebenfalls in den Kamin und beobachte befriedigt, wie sich Wolfangs Kommentar langsam in Glut verwandeln.
„War ja klar. 😡“ (Alex)
Die Kommissarin ist zwar weiterhin hübsch, aber leider weiterhin völlig ahnungslos. Ich überlege kurz, ob ich den Laptop wieder aufklappen soll, um einen Kommentar zum überholten Frauenbild dieser Serie zu hinterlassen. Stattdessen gehe in die Küche, um mir ein Bier zu holen. Im Radio laufen die Nachrichten des Lokalsenders: Der Verdacht erhärtet sich, dass sich Landrätin T. die Zustimmung zum städtischen Laborneubau außer der Reihe hat vergüten lassen. Die Staatsanwaltschaft prüft weitere Schritte.
Ich versuche mir ins Gedächtnis zu rufen, wie die Situation dermaßen eskalieren konnte. Wir hatten uns nur zu einem gemütlichen Brettspiel-Abend verabredet. Dass sich Alex als dermaßen schlechter Verlierer herausstellen sollte, konnte vorher niemand ahnen.
„Schlagen ist oberste Pflicht! 😬“, tippe ich, und grinse heimtückisch vor mich hin, während ich mich mit einem frischen Bier wieder dem Fernseher zuwende.
Leider sind die Protagonisten mit ihren Ermittlungen noch keinen Schritt weitergekommen. Ich massiere mir mit der freien Hand die Schläfen und würde die Lösung der Kommissarin am liebsten in ihre Kleinmädchen-Visage tackern: „Teresa war es! Mutter Teresa!“ brülle ich den Fernseher entnervt an.
„Das Startfeld muss man immer freimachen!“ (Alex)
Eines der Displays fleht den Laborheini an, den abendlichen Neustart zu verschieben: „Jeden Abend sind wir an der selben Stelle der Diskussion angelangt. Ich hatte ihn fast so weit.“, schluchzt Teresa, „Fünf Minuten mehr, das ist alles was ich bräuchte.“ Derweil meldet sich das Adolf-Display zu Wort: „Dieses Konzept, mit der Menschlichkeit, ich sollte vielleicht darüber nochmal…“. Während ich fast schon panisch nach der Fernbedienung greife, entscheide ich mich, endlich mein Streaming-Abo zu kündigen. Als das Bild mit einem leisen Brizzeln in sich zusammenfällt, bin ich schon wieder auf dem Weg zum Kühlschrank.
„Nicht wenn man schlagen kann!“ (Julia)
Ein Parteigenosse erklärt im Interview, was Landrätin T. in der Vergangenheit alles für die Region geleistet hat. Die Mischung aus Wut und Fremdscham lässt meinen Puls in ungeahnte Höhen schnellen. Ich drehe am Schalter des Radios und er rastet mit einem befriedigenden Schmatzen in der „Aus“-Stellung ein. Die plötzliche Stille summt in meinen Ohren.
„Jetzt hört doch mal auf! 😟“ (Theresa)
„Ihr Paket kommt bald – wo und wann möchten Sie es empfangen?“ (DHL)
„Wenn Ihr die Regeln nicht kennt! 😕“ (Alex)
Mein Daumen drückt sich fast von allein auf den Schalter. Ich bilde mir ein, Alex‘ Pulsschlag an meiner Fingerspitze zu fühlen. Das Handy zwingt mir eine letzte Animation auf und schaltet sich ab.
Ich beschließe, mir noch ein Bier zu genehmigen.
Ruhe.
Endlich.