Ich beobachte die politischen Entwicklungen bei uns seit meinen Schülerzeiten, also seit Ende der 60er Jahre, und kann deine Einschätzung nicht teilen. Aufgewachsen bin ich mit einem 3-Parteien-Bundestag, in dem sich "Schwarze" und "Rote" in zwei Lagern gegenüber standen und eine hohe Zahl von Stammwählern hatten, die weitgehend unreflektiert das wählten, was sie schon immer gewählt hatten.
Heute haben wir – zum Ärger dieser beiden grossen Parteien – nur noch einen kleinen Anteil Stammwähler und einen hohen Anteil Wechselwähler, die viel mehr politisch reflektieren. Und 5 Parteien, zwischen denen sie die Auswahl haben.
Die getrennten politischen Lager sind in Auflösung begriffen. Mit den Begriffen "rechts" und "links" kommt man nicht mehr weit, man muss schon differenziertere Überlegungen anstellen, wenn man sich ein Urteil bilden will.
Meiner Meinung nach sehen wir grade im Moment, wie gut das funktioniert, bei allen Parteien:
Die CDU schält sich langsam als die letzte große Volkspartei heraus, weil sie immer mehr ideologischen Ballast abwirft und zunehmend pragmatisch handelt.
Die SPD, als natürliches Gegenwicht, hat immer noch unter der "Basta"-Politik Schröders zu leiden, wurde von ihren Anhängern abgestraft und muss nun innerparteiliche Demokratie nachholen.
Die FDP hat versucht, mit unhaltbaren Wahlversprechen an die Macht zu kommen, und stürzt nun angesichts der Realitäten ab.
Die Grünen sind bei ihren Kernaussagen geblieben und stellen sie und sich selbst zunehmend bürgerlich-seriös dar – mit stetig steigender Zustimmung.
Und die Linken fangen die Protestwähler am linken Rand auf, sehen sich nun aber gezwungen, inhaltliche Grundsatzarbeit zu leisten, weil sie sonst stagnieren.
Fazit: Die Wählerschaft kommt mit diesen 5 Parteien gut zurecht, die politische Klasse dagegen hat sich an die neue Landschaft noch nicht angepasst und versucht immer wieder, sich irgendwo in Feldlager einzugraben.
Ich möchte weder die alten Zeiten mit ihren unversöhnlichen Lagern und Wahlschafen wiederhaben, noch ein System wie das amerikanische oder britische einführen, in dem sich die beiden Alternativen kaum voneinander unterscheiden und sich gegenseitig das Regieren schwer machen. Das sind für mich politische Einöden.