Recht hast du, aber worauf soll der Staat das Urteil gründen, wenn nicht auf Expertenmeinungen?
Er wird sein Urteil auf die Meinung von Experten gründen müssen. Da es unter ihnen zwei Glaubensrichtungen gibt, wird wohl derjenigen der Vorzug gegeben, die im Sinne der Beschneidungsreligionen urteilt, alles andere ist unrealistisch. Die unabhängige Sachlichkeit, die ich mir wünsche, ist nun mal ein Wunsch und keine reale Option. Faktisch werden die Religionen ihren Freibrief bekommen, da geht nichts drumherum.
Was säkulare Humanisten aber immerhin noch tun können: Sie können es den Politikern so schwer wie möglich machen, indem sie (a) in dieser Debatte keine "Experten" mehr auf dem Gebiet religiöser Glaubenslehren akzeptieren, sondern medizinische Gutachten einfordern, und (b) den als Bundesgesetz geplanten religiösen Freibrief mit Hinweis auf den Gleichheitsgrundsatz ablehnen. Die Botschaft muss sein: Es gibt uns, wir schauen euch auf die Finger, wir mischen uns ein; seid wenigstens kreativ und lasst euch was einfallen, wie ihr das Kunststück fertigbringen wollt, einen religiösen Freibrief auszustellen, der nicht nach religiösem Freibrief aussieht. Druck machen, die Politiker ins Schwitzen bringen.
Letztenendes muss eine Grundsatzentscheidung getroffen werden: Steht Religion über der körperlichen Integrität von Unmündigen?
Diese Frage kann man nur mit "Nein" beantworten - jedenfalls hier im säkularen Deutschland, das zwar Religionsfreiheit garantiert, aber keine Sonderrechte aufgrund bestimmter religiöser Zugehörigkeit einräumt. Beschneidungen im Kindesalter ohne medizinische Indikation kann man eigentlich nur dann erlauben, wenn man die körperliche Integrität des Kindes durch die Beschneidung nicht nennenswert beeinträchtigt sieht. Und dann ist sie auch der Mutti zu erlauben, die ihr Kind aus ästhetischen Gründen (oder weil's in den FitforFun-Hygiene-Tipps stand) ohne Mützchen haben will. Anders geht's nicht.
Schon eine der ersten Reaktion auf das Kölner Urteil (Holocaust-Vergleich von einem Vertreter der israelitischen Kultusgemeinde) zeigt, wie viel Sprengkraft in diesem Thema liegt.
Leider behindern diese beschissenen Hinweise auf den Holocaust nicht nur sachliche Debatten, sie verschleiern auch das eigentliche Problem: es steht ein Kulturkampf bevor, ob wir wollen oder nicht. Der hat nichts mit speziell muslimischen, christlichen oder jüdischen Marotten zu tun, nichts mit Rassismus oder Ressentiments, auch nichts mit Geschichtsrevisionismus á la Rechtsradikal - das sind alles Scheingefechte und Nebelkerzen. Vielmehr ist das säkular-humanistische Weltbild mit dem religiösen schlicht nicht vereinbar. Dies zeigt sich bei vielen Themen, beispielsweise Abtreibung und Homosexualität. Man schaue nur mal auf den aktuellen Wahlkampf in den USA, wo sich die unterschiedlichen Positionen unvereinbar gegenüberstehen.