Das Foto
Als Paul seine Zugreise nach Köln antrat —ein alter Schulfreund, Andreas, hatte ihn für den Tag nach Weihnachten eingeladen—, schmunzelte er über seine elektronische Fahrkarte: „Gleis 15 … Wagen 15 und Sitzplatz Nr. 15“.
Im Zug fiel er unverhofft in einen Dämmerschlaf. Ihm träumte von einer auf seiner Hand herum krabbelnden, behaarten Spinne, die plötzlich zustach. Vom im Traum empfundenen Schmerz wachte er zwar auf, die Schlafstarre hinderte ihn aber am Einatmen, weswegen er ruckartig nach Luft schnappte. Ihm schräg gegenüber saß eine junge Mutter, lange blonde Haare, die ein Neugeborenes an ihrer Brust stillte und ihm dabei zärtliche Mutterworte zuflüsterte. Dieses friedliche Bild, das regelmäßige Rattern des Zuges und der freundliche Blick, den die Mutter Paul zuwarf und der ihm zu sagen schien: »Gräm Dich nicht, es wird alles gut!«, erfüllten ihn mit einem Gefühl von Frieden und Geborgenheit, das er seit Kindesbeinen nicht mehr empfunden hatte.
Beim Wiedersehen mit Andreas in seiner luxuriösen Wohnanlage tauschten sie zunächst die üblichen Höflichkeitsfloskeln zweier ehemaliger Mitschüler, die sich zwar seit der Kindheit kannten, sich aber nach dem Schulabschluss gut drei Jahrzehnte lang nicht mehr gesehen hatten. Paul war zum Studium ausgewandert und hatte im Ausland Wurzeln geschlagen, während Andreas in Deutschland geblieben war. Sie umarmten sich, ein Kompliment hier, eine sarkastische Bemerkung da … und dann, als habe es die lange Trennung nie gegeben, vertieften sie sich in für Außenstehende langweilige Gespräche: »Weißt Du noch, damals, der schrullige Bio-Lehrer? … die vollbusige Französischlehrerin … wie hieß sie noch, Frau Blank? … was ist aus X geworden… hast Du noch Kontakt zu Y…?»
Paul fiel das an der Wand hängende, eingerahmte Schwarzweißfoto auf, das um die 30 für den Karneval verkleidete, lachende Kinder, vermutlich erste Grundschuljahre, zeigte. Paul erkannte sich als Clown. Andreas war ein Zauberer.
»Schönes Foto, nicht wahr? Wie fröhlich und ausgelassen wir posieren! Leider sind mindestens drei von uns schon sehr früh gestorben«, meinte Andreas, »Der Cowboy links oben, Heinrich, starb als erster. Ich traf ihn zuletzt am Flughafen in den Sommerferien. Wir flogen zu unseren Gastfamilien, er hatte eine Gastschwester erwischt, ich nur einen Gastbruder. In einer Postkarte beschrieb er sie als leider hässlich. Zum Schuljahresanfang hieß es, wie Du sicher noch weißt, er sei bei einem Autounfall gestorben. Seine Familie bat mich, ihr die Postkarte zu geben. Sie wollten alle seine Habseligkeiten zusammensammeln und sie verbrennen.«
»Der Koch in der zweiten Reihe rechts, Rolf, entpuppte sich später als Homosexuell, als Paradiesvogel. Er war ja so der Künstlertyp, miserabel in Mathe, aber ein hochbegabter Musiker. Er wurde eines nachts überfallen und kaltblütig ermordet, die Täter nie gefasst.«
»Neben Rolf die Zauberfee Johanna, später die mit Abstand schönste Frau der ganzen Schule. Du warst auch in sie unglücklich verliebt, Paul. Sie war ja eine Erscheinung. Kannst Du Dich an jene Szene in der 8. oder 9. Klasse erinnern —Geschichtsunterricht, Herr Schwarz, der auch unser gefürchteter Sportlehrer war—, während einer Geschichtsklausur flüsterte er Johanna irgendwas zu, worauf diese empört aufstand, zur Tür rannte und ihn anschrie, sie gehe jetzt zum Direktor. Der Schwarz geriet in Panik und beschwörte sie: »Johanna bleib hier!«, brüllte der Kerl verzweifelt, während sie in Tränen ausbrach. Wir waren so betroffen, aber nur Hermann traute sich, aufzustehen, um sie zu trösten, worauf ihn der Schwarz am Nacken packte. So ein *********, der Herr Schwarz. Sie starb jung, angeblich ein Sportunfall. Ob der Fallschirm nicht aufging, ob sie Selbstmord beging … die Familie hielt sich bedeckt, wir werden es nie erfahren.«
»Drei von Dreißig sind jung gestorben und das sind nur die, von denen wir es wissen. Wer weiß, wieviele überhaupt noch leben«, meinte Paul, während er an seiner Teetasse nippte.
Andreas wechselte das Thema.
»Bist Du noch so gläubig wie damals? Wir haben Deinen offen praktizierenden Katholizismus nie verstanden.«
»Aber ja! Gerade in unseren Zeiten ist der katholische Glaube sinnvoll, ja zwingend. Würde Dir auch guttun, Andreas.«
Dann zeigte Andreas ihm sein Terrarium mit der großen schwarzen Spinne. Er nahm sie in die Hand und bot sie Paul zum Streicheln an:
»Hier, mein Liebling, willst Du sie mal halten, sie tut nix.«
»Danke, aber ich verzichte. Was hast Du bloß für ein seltsames Hobby, womit fütterst Du die?«
»Mit kleinen Heuschrecken, die ich da in dem Kasten halte.«
»Und womit fütterst Du die Heuschrecken?«
So plätscherten das Gespräch und die Stunden dahin, bis Paul meinte, es sei spät geworden, er müsse zurückfahren und außerdem fühle er sich irgendwie matt.
Sie umarmten sich zum Abschied.
Als Paul die Haustür hinter sich zog, fand er im Vorgarten zwei zum Verwechseln ähnlich aussehende Männer in Anzügen vor. Vor dem Haus standen mehrere offiziell aussehende Fahrzeuge mit Polizeivolk, darunter sogar ein Rettungswagen. Was vorhin wie eine luxuriöse Wohnanlage aussah, kam ihm jetzt wie ein Hochsicherheitstrakt vor. Die zwei Zwillinge stellten sich als BKA-Agenten vor. »Wie Schulze und Schultze aus „Tim und Struppi“«, dachte Paul.
»Wie geht es Ihnen, alles in Ordnung?«, fragte ihn der eine Agent.
»Wie bitte? Wieso fragen Sie? Tatsächlich fühle ich mich etwas schwach, kriege kaum Luft.«
»Sanitäter!«, rief der andere Agent.
Während sie Paul auf die Bahre legten, erklärte ihm einer von den beiden Agenten, dass sein Freund Andreas im Verdacht stehe, ein Serienmörder zu sein. Er hüte ein Foto aus seiner Kindergartenzeit. Von den zweieinhalb Dutzend Kindern auf dem Foto seien nur er, Paul, dem sie im BKA die Nummer 15 gegeben hätten, und Andreas, Nummer 19, am Leben. Dass Paul so früh in die USA ausgewandert sei, habe ihm wahrscheinlich bisher das Leben gerettet. Sie gingen jetzt davon aus, dass Andreas ihn gerade vergiftet habe, womit er sein Tötungswerk vollendet habe und sie, also das BKA, endlich eine Handhabe, einen Beweis gegen ihn vorfinden könnten, vielleicht den vergifteten Tee oder die Plätzchen, denn, schloss der Agent triumphierend, lange genug hätte dieser Andreas Kripo und BKA an der Nase herumgeführt.
Als Paul versuchte, sich darüber zu empören, dass sie ihn als nichts ahnenden Köder mißbraucht hätten, fand er sich in einer ähnlichen Körperstarre gefangen, wie vorhin im Zug. Seine Glieder, seine Zunge gehorchten ihm nicht. Er konnte gerade noch atmen und die Augenlieder bewegen.
Sein Gehirn jedoch arbeitete wie im Fieber: »Andreas ein Serienmörder? Sicher, er war schon als Mitschüler ein schräger Vogel, stieg abends heimlich ins Lehrerzimmer, suchte die Schränke nach den Klausuren ab, spähte die Mädels in deren Umkleideraum aus... Aber ein Psychopath? Dann fiel ihm der Albtraum im Zug ein, der ihn vor Andreas´ Spinne gewarnt hatte. War das eine Vorahnung gewesen? Falls ja, so lagen die BKA-Agenten falsch, wenn sie das Gift im Tee vermuteten. Nein, den Tee hatten sie gemeinsam getrunken. Allerdings hatte er sich mehrmals an Gegenständen in Andreas´ Wohnung gestochen. Als er ihn umarmte, stach ihn eine Sicherheitsnadel. Steckte sie im Hemd? Das gleiche mit dem Handtuch im Bad, als er sich die Hände abtrocknete.
Schließlich fiel ihm nur noch Beten ein: »Herr, hab Mitleid mit Deinem unwürdigen Diener und lass nicht zu, dass der Anblick dieser zwei Gestalten, Schulze & Schultze, zum letzten meines irdischen Lebens wird.«
Dann verlor er das Bewusstsein.
Grelles Licht. Krankenhausgerüche. Das Weihnachtsoratorium von Bach in Zimmerlautstärke. Paul versucht aufzuschreien: »Das Gift … das Gift … ist in den Nadeln … und die Spinne …!«
Eine Krankenschwester, jung und blond, eilt herbei, hält eine Spritze an seinen Arm und spricht ihm dabei tröstende Worte zu: »Sie sind außer Gefahr … alles wird gut«, dabei schüttelt sie kurz den Kopf, ihre blonde Haarmähne gibt ihr Gesicht frei und Paul stößt einen erleichterten Seufzer aus, denn er erkennt jetzt die junge, ihr Neugeborenes stillende Mutter aus dem Zug.
»Maria! Heilige Maria Mutter Gottes! Maria hat mich gerettet.«, wiederholt er wie ein Mantra.
Der herbeieilende Oberarzt wendet sich seinen Assistenten im Gefolge zu: »Was faselt dieser Patient?«
»Maria ist unter uns, sie hat mich vor dem Serienmörder gerettet! Ich bin die Nummer 15, der einzige Überlebende aus dem Foto!«
»Also, mein Herr, die Heilige Maria Mutter Gottes welt unter uns in Köln? Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin ja auch katholisch, in Kölle sind wir fast alle katholisch«, dabei dreht er sich wieder nach seinen Assistenten um, die ihm eifrig zunicken, »aber dass die Heilige Maria Ihnen hier in Köln erschienen ist, das halten wir für sehr unwahrscheinlich.«
Da fasst Paul den Oberarzt am Arm, schaut ihm tief in die Augen:
»Glauben Sie mir! Maria ist hier. Sie hat mich gerettet!«