3. Die Maske
Als Roland Verwandte in seiner alten Heimat, der Großstadt, in der er geboren wurde und aufwuchs, besuchte, traf es sich, dass er einen Kartenleser für seinen Personalausweis und ein USB-Kabel für ein Ladegerät kaufen wollte.
Die Stadtplananwendung seines Mobiltelefons zeigt ihm den Weg zum neu eröffneten Media-Markt im Stadtzentrum unweit seines Geburtshauses. Nachdem er sich der Straße und der Hausnummer vergewissert hat, durchquert er zu Fuß das Viertel seiner Kindheit bis zur gesuchten Straße, einer Hauptgeschäftsstraße, die ihm als Kind und Jugendlicher sehr vertraut gewesen war.
Trotzdem findet er den Media-Markt auf Anhieb nicht. Hatte er den typischen Gebäudekasten moderner Elektronikmärkte erwartet, so ist er unangenehm berührt, als er über dem Säuleneingang eines ehemals altehrwürdigen Kinos die roten Media-Markt-Buchstaben leuchten sieht, und er sich daraufhin das Sirren der elektronischen Geräte im Neonlicht, gerade hier, an diesem magischen Ort seiner Kindheit und Jugend, vorstellt.
Vor dem Eingang fällt sein Blick auf den Boden und auf das Mosaik mit der Maske, jenes Symbol, das man vom Theater kennt. Die lustige und die traurige Maske, die jeweils für Komödie und Tragödie stehen. Das Mosaik stellt jedoch nur eine Maske dar, und Roland kann sich nicht entscheiden, ob sie weint oder lacht.
Während er mit seinem Mobiltelefon das Mosaik fotografiert und es als sein WhatsApp-Profilbild einstellt, erinnert er sich an frühere Kinobesuche.
Er denkt an seine längst verstorbene Großmutter, die Roland, dem Kind, das Kinogeld und die zwei Zusatzmünzen – das Trinkgeld für den Platzanweiser! - in die Hand zu drücken pflegte und hinterher mit gespielter Strenge nachfragte: „Hast Du dem Platzanweiser das Trinkgeld gegeben, Roland?“. Die Ermahnung der Großmutter wurde zum „Running-Gag“ in Rolands Familie.
„Sag mir wo die Platzanweiser sind, wo sind sie geblieben? Was ist geschehen? ...“ summt und pfeift Roland vor sich hin.
Dann fällt ihm einer seiner letzten Kinobesuche als Jugendlicher ein. Er hatte damals Mut gefasst, seine letzte Barreserve, einen 100-Francs-Schein, der von einer Frankreichdurchreise übriggeblieben war und den seine Eltern verlegt und vergessen hatten, bei einer Bank gegen horrende Gebühren umtauschen lassen, um eine Mitschülerin in dieses Kino einzuladen.
Das Unternehmen misslang. Das Mädchen nahm die Kinoeinladung zwar an, trank eine Erfrischung und aß das von Roland spendierte Eis, seine schüchtern vorgetragenen Komplimente wehrte sie jedoch ab. Ferner erzählte sie ihren Klassenfreundinnen vom verliebten Roland, was die Klassenbeste zum Anlass nahm, ihn bloßzustellen, indem sie ihm vor seinen Kameraden eröffnete, jene Mitschülerin habe kein Interesse an ihm, er solle von weiteren Versuchen absehen.
Zweieinhalb Jahrzehnte später, bei einem Klassentreffen, beichteten ihm die beiden Frauen, verschämt und nun jenseits jedes Attraktivitätsäquators, dass sie damals doch für ihn geschwärmt hätten.
Roland betritt den Media-Markt, der rüstige Wächter vom Sicherheitsdienst nickt ihm freundlich zu, wie einem alten Bekannten.
Der Kartenleser ist rasch gefunden. Nach den USB-Kabeln fragt er eine junge Angestellte mit baskischem Namen am Ansteckschild, die ihn erst seltsam anschaut, dann einen Kollegen herbeiruft: „Hassan! Zeig diesem Herrn die USB-Kabel, bitte.“ Das Wort „Herrn“ spuckt sie fast aus, dann verschwindet sie.
Der Nordafrikaner, offensichtlich ein eingewanderter Berber, führt ihn zu einer Wand, an der zahllose, verpackte Kabeln herunterhängen.
Gegenüber der Kabelwand dröhnen LCD-Fernseher. Zwei Heere aus dem frühen Mittelalter schlagen eine Schlacht im Gebirge. Schilder, Lanzen, Pfeile und Felsbrocken krachen aufeinander, Ritter fallen von ihren Pferden und fuchteln am Boden hilflos mit Armen und Schwertern herum. „Wie umgekippte Käfer.“ denkt Roland.
Die Preise für die USB-Kabel findet Roland derart unverschämt hoch, dass er im Internet eine Alternative nachschlagen will. „Kein Netz“ meldet sein Mobiltelefon. Fast gleichzeitig trifft ihn eine halb singende, halb weinerliche, vertraute Frauenstimme wie ein Stromschlag durch die Kopfhörer:
„Durandart, Durandart!
Guter, bewährter Ritter!
Ich flehe Dich an, lass uns über jene vergangene Zeit reden,
und sag mir, ob Du Dich daran erinnerst,
als Du in mich verliebt warst,
als Du auf Festen von Deinem Liebeskummer sangst und Liebesgedichte vortrugst,
als Du die Mauren auf dem Felde schlugst und mir Deine Siege widmetest,
jetzt, wo Du mir fremd geworden bist, sprich,
warum hast Du mich vergessen?“
Da erinnert sich Roland. Die Erinnerungen kriechen nicht langsam hoch, wie blinde Maulwürfe aus ihren Erdlöchern, nein, sie schwappen wie eine Hochwasserwelle über die Mauern der mühsam errichteten Sandburg. Er erkennt die Frau, schaut auf den Fernseher und sieht sich als fränkischen Ritter Durandart um sein Leben kämpfen.
Als ob sich Zunge und Hirn verselbständigt hätten, hört er zu, wie seine eigene Stimme der Frau entgegnet:
„Eure Worte, hohe Herrin, sind zwar schmeichelhaft, aber falsch!
Dass ich mich von Euch abwandte, das habt Ihr verursacht,
denn Ihr liebtet Waldemar, als ich in Ungnade fiel und verbannt wurde,
falls Ihr mich lieben wolltet, so habt Ihr’s Euch sehr schlecht überlegt,
denn ich sterbe lieber in Verzweiflung, als mich zu entehren.“
Durandart hatte sich damals, vom Liebesschmerz übermannt, dem Eroberungszug Karls des Großen nach Spanien angeschlossen.
Im Jahre 778 waren arabische Gesandte aus der Nordhälfte der Iberischen Halbinsel, darunter der Statthalter von Cäsaraugusta (Saragossa), nach Paderborn gereist und hatten Karl ausgedehnte Landstriche und Burgen südlich der Pyrenäen für Karls zu gründende Spanische Mark versprochen, als Gegenleistung für seine Unterstützung ihres Aufstands gegen den Emir von Cordoba. Diese Intrige, als das Komplott von Paderborn in die Geschichte eingegangen, verleitete Karl dazu, ein riesiges Heer zu rüsten und über die Grenze nach Spanien zu führen. Karl unterwarf erfolgreich alle maurischen Burgen und Städte auf dem Weg nach Cäsaraugusta.
Doch die alliierten Mauren begingen Verrat. Vereinbart war, dass Cäsaraugusta Karl Ihre Tore öffnen würde, stattdessen leistete die gut ummauerte Stadt erfolgreich Widerstand.
Die Gründe für den Verrat blieben im Dunkeln. Sei es, dass die Mauren Karl misstrauten, denn das Heer war groß genug, um ganz Nordspanien für die Christenheit zurückzuerobern, oder sei es, dass sich die intrigierenden Mauren untereinander uneins wurden. Tatsache ist, dass sich die Versorgungslage des Heeres zusehends verschlechterte, und dass Karl nach mehrmonatiger Belagerung Cäsaraugustas von einem sächsischen Aufstand in der fränkischen Heimat erfuhr. Er beschloss, mit dem Heer ins Reich der Franken auf schnellstem Wege zurückzukehren. Auf diesem Rückzug verwüsteten und brandschatzten die Franken Pamplona, eine Hauptstadt der Basken, die unter maurischer Herrschaft stand.
Beim beschwerlichen Marsch durch die Pyrenäen geriet die Nachhut des gewaltigen Heeres - darunter Durandart und zahlreiche fränkische Adlige - in einen Hinterhalt, den Mauren zusammen mit baskischen Bergstämmen gelegt hatten.
Die Mauren schossen mit Pfeilen und trieben die Franken gegen eine Felswand, von der die Basken, diese Wilden, riesige Steine auf die Franken herunter schleuderten.
Roland erinnert sich jetzt an das Chaos, an den Anblick seiner toten Kameraden, seines erschlagenen Pferds. Wie er, schwer verwundet, Basken und Mauren verfluchend sein kostbares Schwert in einen Schluchtensee warf, bevor er kraftlos hinsank. Dann sah er zu, wie ein maurischer Scherge, ein Berber, ihm mit dem Messer in die Kehle stach. „Wie einen Hund!“, dachte er, „Vom Liebeskummer bin ich allerdings geheilt“.
Dann wurde es schwarz, so schwarz wie der soeben abgeschaltete Fernseher im Media-Markt.
Die Frauenstimme ist längst verstummt. Widerwillig greift sich Roland ein USB-Kabel von der Wand. Er spürt sowohl Hassans festen Blick in seinem Nacken, als auch die unbändige Lust, den Berber mit dem Kabel zu erwürgen. Dann sucht er mit den Augen nach der entschwundenen Baskin und findet sie nicht.
An der endlosen Kassenschlange kommt er sich vor wie unter den Seelen von Toten, die willenlos zum Totenschiffer schlurfen und den Fährpreis an der Kasse entrichten.
Beim Hinausgehen glaubt er zu erhaschen, dass die Maske aus dem Mosaik vor dem Kinoeingang doch lacht. Die hinausströmende Menschenmasse zieht ihn aber auf die Straße fort, bevor er sich dessen vergewissern kann.
Als sein Mobiltelefon draußen wieder ein Netz findet und er WhatsApp aufruft, stellt er fest, dass die Anwendung abgestürzt ist. Das Maskenfoto ist aus seinem Profilbild verschwunden.