walfrieda
Aktives Mitglied
- Dabei seit
- 29.03.2006
- Beiträge
- 9.252
- Reaktionspunkte
- 1.173
Diese "kleiner Bruder/großer Bruder"-Erzählung klingt aber sehr naiv. Und auch ein bisschen herablassend, obwohl du's wahrscheinlich nicht so meinst.
Kann sein, daß es so klingt. Aber im Gegensatz zu den meisten anderen Diskutanten hier lebe ich in Griechenland und kenne die Situation vor Ort ebenso wie die "Volksseele". Sicher war die Hoffnung auf Hilfe vom "grösseren Bruder" naiv, das haben die Griechen ja schmerzlich merken müssen.
Dagegen kann man mal zwei Punkte zu bedenken geben. Erstens: Die Griechen haben eine ganze Menge größerer Brüder, die ihnen in ihrer jetzigen Lage helfen könnten: Griechen. All die Millionäre und Milliardäre, die dem griechischen Staat nach vorsichtigen Schätzungen 40 Milliarden € Steuern schulden. Und all die Reederei-Tycoons, die bislang per Gesetz steuerbefreit sind. Schwer einzusehen, warum Steuerzahler in ganz Europa dafür einstehen sollen, dass Griechenland von seinen reichsten Bürgern keine Steuern eintreibt. Die ständigen Solidaritäts-Forderungen nach außen sind deshalb ziemlich geschmacklos. Man nimmt die Deutschen und alle andern Nettozahler in die Pflicht, während Griechen keine Solidarität mit Griechen zeigen, sondern ihr Geld lieber im Ausland verstecken.
Ja, das ist ein grosses Problem. Dazu muß man aber wissen, daß Griechen auf Grund ihrer Geschichte ein andere Staatsverständnis haben als Deutsche. Jahrhundertelang besetzt, danach von einer raffgierigen Politikerklasse ausgeplündert, hat sich beim Griechen das Bild "Der Staat ist mein Feind" aufgebaut. So etwas wie "Gemeinsinn" gibt es in hohem Masse, aber nur im kleinen Raum, sprich innerhalb von Familie und Freundeskreis. Daß man einem Staat Steuern zahlt, von dem man nichts erwarten kann, und wo man weiß daß das Geld in dunkle Kanäle fließt, hat man nicht eingesehen. Das ist bedauerlich, aber unter den gleichen Rahmenbedingungen würden Deutsche nicht anders reagieren. Wenn ich (wie zuletzt von Barroso) höre, das Vertrauen in den griechischen Staat muß "wiederhergestellt werden", schüttle ich immer den Kopf - nein, nicht "wiederhergestellt", sondern "von 0 aufgebaut", und "0" ist dabei schon geschönt.
Griechenland und die griechische Gesellschaft ist in einer extrem schwierigen Umbruchphase. Der Umbau des Staates wird auch das Verhalten der Leute ändern, sobald sie sehen daß sich etwas zum Positiven verändert. Bisher ist noch zu wenig Vertrauen da, nicht nur Vertrauen in den griechischen Staat, sondern auch Vertrauen in Europa, so daß die reichen Griechen ihr Geld leider im Ausland lassen als von einer eventuell doch noch kommenden Währungsreform kalt erwischt zu werden. Auch hier gilt: Jeder Deutsche würde das gleiche tun. Man kann nicht erwarten daß sich Leute einfach handstreichartig enteignen lassen.
Was die Reeder angeht, die immer wieder als schlechtes Beispiel herhalten müssen weil sie von Steuern befreit sind: Das sind die Einzigen, die in GR private Stiftungen unterhalten, und massiv durch ihre Spenden das Gemeinwohl unterstützen. Durch eigene Anschauung kann ich sagen, daß das griechische Volk von diesen "bösen Steuerhinterziehern" mehr profitiert, als wenn diese Steuern zahlen würden - in Form von großen Fortbildungszentren, Infrastruktur und Strassenbau, Stipendien, etc). Wer allerdings wirklich ein Problem darstellt ist die Orthodoxe Kirche - ihr gehört praktisch das halbe Land, ohne daß sie Steuern auf Grundbesitz oder Erbschaften zahlen müssten - und die Gehälter der Geistlichen zahlt auch noch der Staat. DA könnte man wirklich Geld holen, aber da traut sich nicht mal die Troika dran.
Zweitens: Das Deutschland-Ansehen war in Griechenland tatsächlich groß. Ich kann mich an eine BBC-Umfrage von 2006 erinnern, wonach Deutschland unter allen Ländern von den Griechen die höchsten Sympathiewerte erhielt. Wieso dieses plötzliche Umkippen der öffentlichen Meinung? Es fällt schwer, das nicht zynisch sehen: Solange Deutschland ohne Nachfragen und Kontrollen den Wohlstand durch die jährlichen EU-Nettozahlungen und Fördermittel co-finanzierte, war alles bestens. Offenbar waren diese Sympathien aber eher mit Geld erkauft als genuin.
Das Ansehen Deutschlands in Griechenland ist traditionell immer sehr gut gewesen, schon lange bevor auch nur eine einzige Mark über die EU dort hingeflossen ist. Die Sympathien kommen zum Großteil daher, daß viele Griechen Deutschland als Gastarbeiter kennen und schätzen gelernt haben. Viele von ihnen sind in die Heimat zurück gekehrt, und sind jetzt hier in ihren Ansichten "deutscher" als die Deutschen.
Als den Rettungspaketen nicht umgehend zugestimmt wurde und die deutsche Regierung Strukturveränderungen forderte, wurden sofort deutsche Fahnen verbrannt, Hakenkreuze an die Botschaft geschmiert und Reparationsforderungen aus dem 2. Weltkrieg präsentiert.
Das alles ist vorgekommen, ja. Aber in einem sehr geringen Ausmass, das man in den deutschen Medien wie durch ein Vergrösserungsglas dargestellt hat. Die meisten Griechen sind auch heute noch deutsch-freundlich. Du kannst es mir glauben, ich erlebe es jeden Tag. Daß es hier wie überall Deppen gibt, ist aber auch normal.
Mich hat immer gewundert, warum sich der griechische Volkszorn im Verbrennen deutscher Flaggen entlud und nicht, sagen wir mal, in Plünderungen der Villenviertel in Athen und Thessaloniki, wo die griechischen Kleptokraten nisten, die wahren Verursacher der Misere.
Möglicherweise, weil dort auch die wichtigsten Arbeitgeber leben... Aber ja, dazu kann es noch kommen, wenn die Regierung nicht für einen sozialverträglichen Ausgleich zwischen Arm und Reich sorgt - und zwar bald. Die Troika könnte da mal helfen - zum Beispiel weil sie neue "Spar"vorhaben der Regierung ablehnt, wenn sie den sozialen Frieden gefährden. Derzeit ist die Troika das Feindbild Nummer 1 (deutlich vor Frau Merkel) - aber sie könnte von einem Tag auf den anderen der Liebling der Griechen werden, wenn sie sich für den kleinen Mann einsetzen würde. Ich bin gespannt, ob das mal passiert.