Um zum Ausgangspunkt zurückzukehren: Wenn man Drewermann für seine Ablehnung von Kampfeinsätzen kritisiert, muss man bedenken, wovon er spricht. MacEnroe unterwellt, die Kriege der letzten 20 Jahre würden der Hilfe für Unschuldige, die in Gefahr geraten sind, dienen. Das ist eine vollkommen haltlose Behauptung. Keiner der Einsätze hat diesem Zweck gedient. Das war immer nur ein Vorwand, am drastischsten bei den frei erfundenen Massenvernichtungswaffen im Irak. Wäre es anders, gäbe es ausreichend Orte auf der Welt, wo man sich einmischen könnte, um Unschuldige zu schützen. Aber in Ruanda ist es anders gelaufen, in Srebrenica ist es anders gelaufen. (Dort besonders perfide, indem man die Männer mit dem Versprechen, ihnen Zuflucht zu gewähren, in die Falle gelockt hat, im sie dann im Stich zu lassen. Eine Geschichte, die mir immer, wenn ich daran denke, fast einen hysterischen Anfall verursacht.) Natürlich kann MacEnroe keinen einzigen Militäreinsatz nennen, der diesem hehren Zweck hätte dienen sollen. Und er kann logischerweise auch keinen einzigen nennen, der dieses hehre Ziel erreicht hätte. Er beschuldigt also Drewermann, etwas verhindern zu wollen, was es bisher nicht gegeben hat und was auch nicht geplant ist. Denn Du hast recht: Das wäre völlig neu, und wenn wirklich so etwas völlig Neues geplant wäre, würde man es deutlich mitteilen müssen. Tatsächlich sind aber alle diese Kriege geführt worden, um Einfluss-Sphären zu vergrößern. Und zwar vollkommen ohne Rücksicht auf die möglichen Folgen. In Afghanistan haben die USA die islamistischen Extremisten unterstützt (unter ihnen war ein gewisser Osama bin Laden), weil sie gegen die SU gekämpft haben. Leider hatte man die Rechnung ohne den Wirt gemacht, in diesem Falle ohne die Mudschaheddin, so dass nicht einmal das geostrategische Ziel erreicht wurde. Das hat man dann mit dem Krieg in Afghanistan nachträglich zu korrigieren versucht und außer Tod und Zerstörung und viel Leid für die Zivilbevölkerung nur erreicht, dass die Tabliban stark sind wie nie und der Hass auf den Westen noch ausgeprägter als vorher. (Dazu passt, dass die Bundeswehr den Afghanen, die in ihren Kasernen gearbeitet haben, und nun aus Angst um ihr Leben darum bitten, dass sie mit nach Deutschland genommen werden, nur in Ausnahmefällen mehr zu sagen hat als »Das Leben ist kein Ponyhof« und »Augen auf bei der Berufswahl«.)
Soll man noch etwas über die Auswirkungen des Kriegs im Irak sagen? Oder über den Effekt des Angriffs auf Libyen? Oder über die Wirkung der Unterstützung der syrischen Rebellen, von denen sich dann herausgestellt hat, dass ein beträchtlicher Teil der IS ist? Und wer kann behaupten, dass in einem einzigen Falle die Absicht gewesen wäre, Unschuldigen zu helfen?
Wie also kann man unterstellen, dass jemand, der diese Kriegspolitik nicht gutheißt, dagegen ist, dass Unschuldigen geholfen wird, wo er doch nur dagegen ist, dass Krieg als Mittel der Politik legitimiert wird, dass der massenhafte Tod von Frauen und Kindern im Interesse der Durchsetzung von Großmachtinteressen in Kauf genommen wird? Ich begreife nicht, was man mit so durchsichtigen Verdrehungen der Tatsachen eigentlich erreichen will.
Allerdings verstehe ich auch nicht, wie man nach dem Scheitern all dieser kriegerischen Unternehmen immer noch glauben kann, dass man mit Kriegen irgendetwas richten kann. Mich erinnert das an die Geschichte mit Hodscha Nasreddin, wo ein Mann einen Sack mit Geld vergräbt, und dann das Problem hat, dass er Sand übrig behält. Also gräbt er ein weiteres Loch, schüttet den Sand hinein, macht das Loch zu und – behalt wieder genauso viel Sand übrig. Kommt Hodscha Nasrreddin und sagt: »Guter Mann, Du musst ein größeres Loch graben.« Etwa so intelligent scheint mir diese Kriegspolitik zu sein, nur dass sich die Menge der wegzuräumenden Probleme (anders als der Erdhaufen der beim Vergraben des Geldbeutels übrig blieb) bei jedem gescheiterten Versuch vergrößert.
EDIT: Noch ein Wort zu Horst Köhler. Natürlich war es ungeschickt bis dumm, dass er sich derartig direkt geäußert hat. Aber der Aufschrei, der dann durch das Land ging, war auf jeden Fall der Gipfel der Heuchelei. Denn es wusste ja jeder, dass er einfach nur die Wahrheit gesagt hat. Und dass ein Bundespräsident zurücktreten muss, wenn er die Wahrheit sagt, ist ein sehr bemerkenswerter Vorgang. (Wohingegen sich anscheinend niemand an dem horrenden Unsinn gestört hat, den er den Theatermachern ins Stammbuch hatte schreiben wollen: »Der ganze ›Don Carlos‹, das wäre doch mal was!« - Es wäre vor allem eine Aufführung von mindestens 7 Stunden, weshalb schon Schiller nie daran gedacht hat, solchen Quatsch zu machen.) Inzwischen hat sich die Sachlage in dieser Hinsicht sehr geändert. Inzwischen sprechen Politik-Wissenschaftler der Humboldt-Universität, die dem Bundespräsidenten die Reden zu solchen Themen schreiben, ganz offen aus, was damals Köhler das Genick gebrochen hat. Da heißt es ganz klar, dass wir deutlich sagen müssen, dass Kriege für geostrategische Interessen geführt werden, und dass unsere Truppen nicht nur ebenso brutal, sondern brutaler als die der Gegner sein müssen, dass es kein Tabu sein darf, Frauen und Kinder zu töten, Dörfer niederzubrennen usw. Natürlich dauert es etwas länger, bis der Pfarrer, der unser Staatsoberhaupt ist, das so direkt sagt, aber dass er auf dem Wege dahin ist, liegt ja auf der Hand.
Immerhin ist das alles nicht so peinlich wie die Ermahnung des US-Außenministers, dass es sich nicht gehört, mit Waffengewalt in fremde Länder einzumarschieren. Aber Verlogenheit wird ja nicht dadurch besser, dass andere noch verlogener sind. Und in der Hinsicht muss man Köhler immerhin eins zugutehalten: Seine Aussage war nicht verlogen, sie war nur ungeschickt und kam zu früh. Vielleicht hatte er ja gerade mit Herfried Münkler Kaffee getrunken und war von dem, was der ihm gesagt hatte, so begeistert, dass er es gleich weitergegeben hat, ohne zu berücksichtigen, dass so ein Paradigmenwechsel propagandistisch gut vorbereitet sein muss.