„Ich war dabei“ – Günter Grass und die Waffen-SS

Zoë schrieb:
Ich glaube ich habe meine Position bereits deutlich gemacht. Ich bin nicht die letzte Instanz die darüber entscheidet wo Antisemitismus beginnt oder nicht oder nur ein wenig - auf so einer skeptizisstischen Basis kann man alles anzweifeln und in Stücke reden.

Das sehe ich ein, aber die Frage stellte sich für mich, weil Broders Aussage "Einige Menschen erkennen Antisemitismus erst dann [an], wenn Schwarzuniformierte auf Juden schießen…" in dem Zusammenhang plakativ, aber nicht unbedingt hilfreich ist.
 
Edit: Mr Chow hat sein Ursprungsposting gelöscht
 
Zoë schrieb:
Und noch etwas;
Zitat:das klassische antisemitische Klischee mit Hinweis auf die alttestamentarische Rachsucht der Juden: "Aber dieses Auge um Auge, Zahn um Zahn der gegenwärtigen Politik schaukelt allen Zorn nur noch weiter hoch."
Daß Grass verwendet, macht ihn noch lange nicht zum Antisemiten, aber es macht ihn in diesem konkreten Fall zu jemanden, der ein antisemitisches Klischee verwendet. Dies mag nur ein Bruchstück, ein Fragment sein, aber es ist gleichsam auch ein interessanter Mosaikstein.
Es ist weder ein »Mosaikstein«, noch ist es sonderlich »interessant«. Es handelt sich »schlicht« um die Aussage eines renommierten Schriftstellers zur Nahost-Problematik. Eine Feststellung übrigens, die viele andere seriöse Persönlichkeiten mit anderen Worten auch schon getroffen haben. Und: Auge um Auge, Zahn um Zahn ist eine Sentenz, die im allgemeinen deutschen Sprachgebrauch üblich ist (ohne dass man damit gleich Antisemitismus verbindet.)
 
Findet Ihr es denn wirklich so sensationell, dass Herr Grass nun ein halbes Jahr Waffen-SS einräumt? Wie Herr Thierse gestern im Radio sagte, sei doch stets bekannt gewesen, dass Grass bis Baldur von Schirachs Geständnissen in Nürnberg (jugendlich) ein glühender Nazi war. So auch Grass im FAZ-Interview.

Macht es einen großen Unterschied, ob jemand nicht nur gerne Pimpf, sondern auch noch in der SS war? Ich kenne mich da nicht aus.

Interessant finde ich es aber, dass Herr Grass, der große alte Vorzeigeintellektuellenkünstlersozi sich ausgerechnet - ja was? Die FAZ und Herrn Schirrmacher als Plattform wählt, oder sich von ebenjenen vor den Karren spannen lässt?

Herrn Schirrmacher kann ich nur gratulieren. Da ja die von ihm losgetretene "Die Deutschen sterben aus"-Debatte langsam versandet, kommt ihm der sicher bald so genannte "Grass-Streit" gerade recht. Eine schöne Bilanz, nicht nur für Schirrmacher, sondern überhaupt für die FAZ: Historikerstreit, Walser, Sloterdijk, jetzt Grass. Die wissen, wie man das Publikum bei Laune hält.

O je, nicht dass Walser jetzt auch noch seinen Senf dazu gibt ...
 
andimueller schrieb:
Findet Ihr es denn wirklich so sensationell, dass Herr Grass nun ein halbes Jahr Waffen-SS einräumt? [...]
Macht es einen großen Unterschied, ob jemand nicht nur gerne Pimpf, sondern auch noch in der SS war? Ich kenne mich da nicht aus.
Das merkt man. Der Unterschied zwischen Pimpf und SS ist ein gewaltiger. Die SS ist die vermutlich größte Verbrecherorganisation der Geschichte, die unsägliche Grausamkeiten begangen hat. Und man wurde eben nicht eingezogen zur SS, sondern meldete sich freiwillig.
Das ist ja wohl schon was anderes, als Mitglied einer Jugendorganisation gewesen zu sein, in die man mehr oder weniger automatisch kam, und die neben NS-Indoktrination auch viel geboten hat, was Jugendlich auch davor und danach begeisterte (Ferienlager etc.).

Darum geht es aber gar nicht wirklich. Das eigentlich "sensationelle" finde ich weniger, dass er Mitglied der Waffen-SS war (schließlich hat er nie einen Hehl daraus gemacht, in seiner Jugend empfänglich für die Nazi-Propaganda gewesen zu sein), sondern dass er 60 Jahre damit wartet, bis er sich dazu bekennt.
 
Zoë schrieb:
Salut,



Was meint ihr? Wie bewertet ihr dieses späte Bekenntnis?

Zoë


Ick würde mal die Fragestellung so bewerten:
Wie naiv muss jemand sein, der sowas als "späte Bekenntnis" bewertet?

Jemand, der 60 Jahre sowas verheimlicht, der weiß auch, warum er es tut.
Deine Frage ist es, die einem schon fast weh tut.
 
andimueller schrieb:
O je, nicht dass Walser jetzt auch noch seinen Senf dazu gibt ...
»Dagegen erklärte der Schriftsteller Martin Walser in der "Stuttgarter Zeitung": "Der Mündigste aller Zeitgenossen kann 60 Jahre lang nicht mitteilen, dass er ohne eigenes Zutun in die Waffen-SS geraten ist. Das wirft ein vernichtendes Licht auf unser Bewältigungsklima mit seinem normierten Denk- und Sprachgebrauch." Grass habe durch die souveräne Platzierung seiner Mitteilung diesem aufpasserischen Moral-Klima eine Lektion erteilt. "Dafür dürfen wir ihm dankbar sein", sagte Walser.«

!
 
FloFH schrieb:
Das merkt man. Der Unterschied zwischen Pimpf und SS ist ein gewaltiger. Die SS ist die vermutlich größte Verbrecherorganisation der Geschichte, die unsägliche Grausamkeiten begangen hat. Und man wurde eben nicht eingezogen zur SS, sondern meldete sich freiwillig.
Das ist ja wohl schon was anderes, als Mitglied einer Jugendorganisation gewesen zu sein, in die man mehr oder weniger automatisch kam, und die neben NS-Indoktrination auch viel geboten hat, was Jugendlich auch davor und danach begeisterte (Ferienlager etc.).

Darum geht es aber gar nicht wirklich. Das eigentlich "sensationelle" finde ich weniger, dass er Mitglied der Waffen-SS war (schließlich hat er nie einen Hehl daraus gemacht, in seiner Jugend empfänglich für die Nazi-Propaganda gewesen zu sein), sondern dass er 60 Jahre damit wartet, bis er sich dazu bekennt.

Der Unterschied ist mir schon klar, ich meinte jedoch Folgendes: Für jemanden, der gerne und glühend und überzeugter Pimpf ist, wird die Meldung zur SS doch sicher nichts abwegiges, sondern eher etwas faszinierendes sein. Damit kenne ich mich aber nicht so gut aus. Grass führt ja in dem Interview an, dass ihn das antibürgerliche der SS so fasziniert hat. Also erst Zelten in Wald und Flur, garniert mit NS-Indoktrination, dann als nächster (folgerichtiger?) Schritt kämpfen in einer wesensverwandten Organisation.

Oder bin ich auf dem Holzweg? Drittes Reich war nicht gerade mein Studienschwerpunkt, aber aus der Geschichte der Weimarer Republik ist mir noch geläufig, wie unglaublich fanatisiert viele, viele Menschen waren.
 
P.S. Da war er also, der Walser ... in gewohnt normiertem Denk- und Sprachgebrauch.
 
die "La Republica" ist ohnehin ein Drecksblatt.
 
Vielleicht hat ihm jemand gedroht, Beweise dafür zu veröffentlichen und er trat die Flucht nach vorne an?
 
crab schrieb:
Vielleicht hat ihm jemand gedroht, Beweise dafür zu veröffentlichen und er trat die Flucht nach vorne an?

Indem er mal eben ein ganzes Buch schreibt?
 
ich glaube nicht, dass er die Aussagen nur wegen des neuen Buches (Publicity) gemacht hat. Hätte er nichts gesagt, aber es im Buch erwähnt, wäre der Rummel genau so gross gewesen, einfach ein wenig verzögert.

edit: crab beglückt...
 
Zuletzt bearbeitet:
Dativ
:klopfer:
Genitiv
 
Zoë schrieb:
Wie sagte doch Broder so schön? Einige Menschen erkennen Antisemitismus erst dann [an], wenn Schwarzuniformierte auf Juden schießen…

Broder sagt viel wenn der Tag lang ist.
 
andimueller schrieb:
Interessant finde ich es aber, dass Herr Grass, der große alte Vorzeigeintellektuellenkünstlersozi sich ausgerechnet - ja was? Die FAZ und Herrn Schirrmacher als Plattform wählt, oder sich von ebenjenen vor den Karren spannen lässt?
Was Du daran so besonders interessant findest, würde mich interessieren. ;)

DonLoewi schrieb:
Wie naiv muss jemand sein, der sowas als "späte Bekenntnis" bewertet?
Müssen wir verstehen, was Du damit meinst? Hast Du den Thread gelesen?

Ich will mich ja gar nicht mehr einmischen (zumindest heute ;)); aber Ihr erleichtert das stille Mitlesen ungemein, wenn er Ihr Eure Meinungen auch begründet, zumal bei diesem Thema.

Danke fürs Zuhören. :)
 
Herr Chow schrieb:
Was Du daran so besonders interessant findest, würde mich interessieren. ;)

Interessant finde ich die Zusammenarbeit des großen konservativen Blattes mit dem großen linken Schriftsteller.

Interessant finde ich, dass viele das neue biographische Detail nicht besonders bemerkenswert finden, eher noch das lange Schweigen. Wie steht es um die Brisanz der Sache? Rechtfertigt sie den ungewöhnlich großen Raum, den die FAZ ihr einräumt? Und ihre sofortige und umfassende Verbreitung?
 
andimueller schrieb:
Interessant finde ich die Zusammenarbeit des großen konservativen Blattes mit dem großen linken Schriftsteller.
Dachte mir, daß Du darauf hinauswillst, daher der Smilie. ;)
Für mich war es tatsächlich keine Überraschung, da das Feuilleton der FAZ ja geradezu eine Institution in Deutschland darstellt, die keiner Partei besonders nahe zu stehen scheint.

Ich werde meine Lebensbeichte jedenfalls auch in der FAZ veröffentlichen.


Post scriptum:

Nur verschwiegen oder gefäscht? In der heutigen Frankfurter Rundschau schreibt Harry Nutt:

»Günter Grass, der immer mehr mit der Rolle des Moralisten und politischen Chef-Deuters verwachsen ist, hat ein wichtiges Detail seiner Lebensgeschichte nicht nur verschwiegen, er hat es gefälscht.

Als 17-jähriger wurde er in den letzten Kriegsmonaten nicht, wie es in seiner Biografie steht, als Flakhelfer eingesetzt. Der junge Grass hat eine bewusste Wahl getroffen. Der Unterschied, den diese mit Blick auf das Alter verzeihliche Lebenslüge ausmacht, wird nun in allen Facetten ausgeleuchtet. Einige sehen mit Bestürzung ein Denkmal beschädigt, andere beteiligen sich lustvoll daran, es endgültig zum Sturz bringen oder wittern bloß ein besonders gerissenes Marketingkalkül zur Platzierung eines neuen Buches.

Zieht man den lärmenden Verdächtigungsfuror ab, stellt sich dennoch die Frage: Warum erst jetzt?«
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Aspekte einer Nachricht
1. Die Medien
Reiben sich die Hände, allen voran die FAZ, und sehen eine gute Chance, der gähnenden Langeweile des Sommerloches zu entkommen. Alle vermeintlichen Experten werden aus ihren Kerkern hervorgezerrt. Jetzt darf sogar der Cheflangweiler der Historikerzunft, Prof. em. Wehler, der ganze Generationen von Studenten der Geschichtswissenschaft mit seinen schlecht geschriebenen Büchern auf dem Gewissen hat, seine Empörung in der FAZ kundtun. Das Ganze verfolgt natürlich nur ein Anliegen: die Aufregung und die Empörung am Köcheln zu halten.
Daß die FAZ der Nachricht sogar eine globale Bedeutung beimißt, gibt dem Ganzen sogar noch eine ungewollt komische Note, denn global betrachtet pendelt sich die Bedeutung der Nachricht ungefähr bei Null ein.
2. Instrumentalisierung
Wie auch am Verlauf der Diskussion hier zu beobachten ist, läßt sich diese Nachricht natürlich auch für alle möglichen Themen - beispielsweise den Antisemitismus - mißbrauchen.
Ach, beinahe hab ich es vergessen: Man kann nun natürlich auch wieder über "Kohärenz von Werk und Leben" schwadronieren. Günther, ick danke dir. Jetzt ist echt wieder was los bei den Germanisten und den Philosophen!
3. Das Thema
Worüber reden wir eigentlich? Worum gehts? Was ist die eigentliche Nachricht?
Das große Durcheinander ist angesagt und hierfür eignet sich die Nachricht natürlich bestens, denn die selbstgerechte Betroffenheit der großen Fraktion der Gutmenschen ist kaum mehr zu überbieten.
PS
Ich habe vorhin ganz bewußt von "mißbrauchen" gesprochen, denn zu allererst geht es bei der aktuellen Nachricht nicht um die Frage "Ist G. Grass ein Antisemit?", sondern um die Frage "Wie bewältigte und bewältigt G. Grass seine NS-Vergangenheit?"
Eine, wie ich meine, nach wie vor aktuelle Frage!
 
Mal abgesehen davon, daß mir Günter Gras mit seinem erhobenen Zeigefinger schon immer auf den S*ck gegangen ist und für mich große Literatur mit Goethe eh seinen Höhepunkt erreicht hatte* - wie man sieht: Die die am lautesten Schreien haben was zu verbergen.

Nett, wenn dann rauskommt, daß man selber nicht perfekt ist. Wenn er auch nur ansatzweise sympathisch wäre würde ich jetzt sagen "macht ihn menschlich". Da er aber für mich einer der Menschen ist, um die ich mit dem größten Vergnügen einen riesigen Bogen machen ohne, daß mir irgendwas fehlt, muß ich sagen: China, Sack, Reis.

So. Zurück um koksenden Friedmann - Moralapostel Nummer 1 der voll auf die Schnüss gefallen ist.

Lg,
Mirko

* ich gehöre der Fraktion der Spaßleser an und sobald ich auch nur Anspruch wittere fliegt das Buch zurück in die Kiste *lach*
 
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