Das Glockengeläut zupft ihn an einer intimen Faser zwischen Brust und Bauch. Eine Ruhe wie bei vollkommener Windstille erfasst ihn, während er die Kirche betritt und Platz hinter den Betschwestern nimmt.
Als die Glocken aufhören, der Priester und die Messdiener die Sakristei verlassen und feierlich zum Altar schreiten, da ist das, was eben noch eine Kirche war, nun ein Gerichtssaal, die Betschwestern das Gericht, der Priester ist der hammerschwingende Richter, die Messdiener sind Gerichtsdiener und er, der Zuschauer, ist das Opfer.
„Man rufe Fräulein ...!“, die brausend einsetzende Orgel übertönt den Befehl des Richters.
Die Gerichtsdiener verschwinden. Wie von Zauberhand erscheinen sie wieder und werfen, zum Takt der Orgelmusik, eine Frau vor die Kanzel.
„Wie alt sie ist“ denkt er.
Der Richter blättert in einem Band, der soeben noch das Messbuch war.
„Man legt Dir zur Last“, liest er fast singend vor, „einen Jugendlichen übel verraten zu haben. Du hast ihn aufgegeilt, Du hast ihn geküsst, er durfte Dich überall anfassen, aber als er Dir seinen steifen Schweif entgegenhielt, da hast Du Dich abgewandt, Ekel und Schrecken vortäuschend: ‚Nein, Nein!’, riefst Du, Du seist ja noch unschuldig, jungfräulich. Das führtest Du an. Ha!“
Der Richter legt eine Pause ein.
„Ihm verweigertest Du Dich, während Du es heimlich mit seinem Vater triebst! Dem Vater verrietst Du des Jungen Verzweiflung, seinen Frust, dass er Dich nicht vögeln durfte. Du hast ihn blamiert, Ihr habt beide über ihn gespottet und gelacht!
Erneut setzt Orgelmusik ein.
„Du Hündin!“ donnert der Richter
„Du Hündin!... Du Hündin!“ sekundiert das Betschwester-Gericht im Chor.
Da erheben sich zwei von der Gerichtsbank. Eine zerreißt der Angeklagten das Kleid, ihren nackten Rücken entblößend. Die Andere ballt nicht etwa den Rosenkranz in ihrer Faust, sondern eine Peitsche.
Das Sirren und Knallen der Peitsche, begleitet von der anschwellenden Orgelmusik, die wie Dampfhämmer klingt, dazu die Donnerstimme des Richters zum Gewinsel der Angeklagten – das versetzt ihn, den Zuschauer und Opfer, in einen Trancezustand unendlicher Ruhe.
Danach defilieren, nach gleichem Muster, eine Reihe von Frauen einzeln vor dem Tribunal. Der Richter enthüllt Ehrverletzungen, Verrat, Rufmorde. Erst schaudert er vor diesen Schandtaten, um anschließend das jeweilige Urteil brüllend auf die Kanzel zu hämmern. Urteile, die das Gericht unter beipflichtenden Ausrufen – bald „Du He-xe!“, bald „Du Schlam-pe“ – eifersüchtig exekutiert, während der Organist einen Schleier aus klebrigen, pathetischen Tönen über das Geschehen wirft.
Als das Tribunal sich anschickt, die letzte Angeklagte auszupeitschen, fährt der Richter dazwischen.
„Für diesen Fall reicht die Peitsche nicht aus, sie wäre ganz und gar unwirksam.“, dann breitet er die Arme aus und hebt den Blick, als spreche er feierlich die Kuppel des Saales an:
„Soll sie leiden, indem sie sieht, was hätte sein können und nicht wurde!“
Was eben noch ein Kirchenfenster mit prächtiger Glasmalerei war, ist jetzt ein gigantischer Bildschirm, der Szenen wie aus einem Fernsehspot zeigt.
Eine Frau und ein Mann in den Zwanzigern. Sie sind Geschwister! Beide außerordentlich hübsch. Sie sprechen miteinander, sie scherzen und lachen. Sie stellen ihren jeweiligen Partner und das eine oder andere Baby ihrer Mutter vor, einer Frau, die das genau Abbild der Angeklagten darstellt. Diese schaut zu und weint.
Sie weint leise, während der Richter von Abtreibungen erzählt. Abtreibungen, die sie allein verfügte und die er – der Zuschauer, das Opfer! – nicht verhindern konnte.
Als er aus der Kirche heraustritt, scheint die Sonne.