Guten Morgen,
ich muss mich jetzt mal outen. Ich bin die eigentliche Initiatorin des Themas. Ich habe die junge Autorin angestiftet, hier zu posten und fühle ich daher verantwortich. Aus der Erfahrung heraus, dass hier oft viele antwortbereite Menschen hereinschauen und hier eine geballte Menge an Lebenserfahrung zusammenkommt, dachte ich, kucken wir mal, was passiert.
Jetzt geht der Thread allerdings thematisch in die "falsche" Richtung.
Die Frage zielt nicht auf die allgemeine damalige Lage oder geschichtliche Fakten und auch nicht auf Schuldzuweisungen - der Fokus der Frage ist meine (deine) NS-Geschichte. Auf den Punkt gebracht: Hast du deine Eltern/Großeltern persönlich nach ihrer Beteiligung am Holocaust (oder dem, was sie darüber ahnten) gefragt, haben sie dir konkret geantwortet?
Ich erzähle dann mal und bitte mich oder meine Familie nicht an den Pranger zu stellen, weil ich oder sie irgendwas falsch gemacht haben. Vielleicht kann man das einfach so stehen lassen ohne es gleich in Richtig- oder Falsch-Kategorien einordnen zu müssen.
Großvater (m)
bei Kriegsende 40 Jahre alt
war Klein-Unternehmer in kriegswichtiger Industrie, ländliches Umfeld, war überzeugter Nazi, war nicht Soldat
"hat an Hitler geglaubt" (sagt meine Mutter)
"hat nach Kriegsende nie wieder ein Wort über die NS-Zeit verloren" (sagt meine Mutter)
wir Enkel/-innen spielten als Kinder mit scharfen Wehrmachtrevolvern, die in seinem Haushalt waren
ganz dumpf meine ich, er sei auch Ortsvorsteher gewesen (bin mir aber nicht sicher)
Mehr weiß ich nicht. Ich bin nie auf den Gedanken gekommen, ihn direkt irgendetwas zu fragen.
Seine Rolle bezüglich des Holocausts oder Ausbeutung von Zwangsarbeitern - ich weiß nichts.
Großmutter (m)
bei Kriegsende 36 Jahre alt
Hausfrau, Mutter von 5 Kindern, ländliches Umfeld
Über ihre NS-Geschichte weiß ich NULL. Ein völlig weißes Loch. Ich bin nie auf die Idee gekommen, sie zu fragen.
Ihre Rolle bezüglich des Holocausts: ich weiß es nicht.
Onkel W.
bei Kriegsende 17 Jahre alt
Nazi, Soldat der Wehrmacht, Ostfront
Ich habe ihn nie gefragt.
Onkel H.
bei Kriegsende 19 Jahre alt
Nazi, Soldat an der Ostfront
- blieb sein Leben lang in der NS-Ideologie verhaftet
ich vermute, er war auch Holocaustleugner.
war später in der Neo Nazi Szene - was innerhalb der Familie allerdings niemals ausgesprochen wurde.
Meine Mutter sagte mir: "das darfst du niemals ansprechen, das gibt Streit." (gemeint war damit ein Streit, der nie wieder geschlichtet würde)
Ich habe ihn nie gefragt.
Tante M
war bei Kriegsende 17 Jahre alt
ich weiß nichts von ihr, ich habe sie nie gefragt.
Großvater (v)
bei Kriegsende 48 Jahre alt
armes ländliches Umfeld, war nie in der Partei, war Sozialdemokrat, Soldat in der Wehrmacht, nicht an Kampfhandlungen beteiligt
er hat sich die NS-Zeit über dumm gestellt
"man mußte aufpassen, nicht befördert zu werden, um nicht Gefahr zu laufen, Verantwortung übernehmen zu müssen" - sagte er
Über den Holocaust oder was er darüber gehört hatte, was er darüber dachte, ich habe ihn nicht gefragt.
Großmutter (v)
bei Kriegsende 47 Jahre alt
Hausfrau, Mutter
armes ländliches Umfeld, Sozialdemokratin, war entsetzt bei der Machtübernahme
lebte im Bewußtsein, dass der NS-Staat ein Unrechtsregime ist
duckte sich weg, schwieg
hörte heimlich "den Engländer" (Feindsender im Radio), schärfte den Kindern (die das logischerweise mitbekamen) immer wieder ein, sie dürften niemals-niemals irgendjemandem davon erzählen, sonst "käme sie weg".
"man konnte niemandem mehr trauen - auch der eigenen Familie nicht"
"wer denunziert wurde kam weg"
"wenn einer weg kam, wußte man nicht, ob der nochmal wiederkommt"
"die, die weggewesen waren und dann wiederkamen, die sprachen nicht darüber"
war entsetzt über die Zerstörung der Synagoge und jüdischer Geschäfte: "das war Unrecht"
Sie ist die einzige die ich je gefragt habe: Oma, was dachtet ihr denn, als die Juden weg kamen (abgeholt wurden)?
Daraufhin sagte sie: "wir gaubten, die kämen in Arbeitslager und das fanden wir auch richtig". Dann hat sie geweint und hat gesagt: "man war doch so neidisch." Ich habe gefragt: aber habt ihr euch nicht gewundert, dass man nie wieder etwas von ihnen gehört hat? Sie weinte und sagte: "nein".
Tante E
bei Kriegsende 16 Jahre alt
war BDM-Mädel (das war Pflicht)
sie fand das schön: "die ganzen Mädels, wir haben gelacht und gesungen, für mich war das schön"
Ich habe nie weiter gefragt, schon gar nicht bezogen auf den Holocaust.
Vater
war bei Kriegsende 10 Jahre alt
Ich habe nie weiter gefragt, schon gar nicht bezogen auf den Holocaust.
Mutter
war bei Kriegsende 8 Jahre alt
ich habe sie gefragt: wie war das denn damals, woran kannst du dich erinnern? Die Antwort war ein entrüstetes Schnauben: "Ich war ein Kind!"
ich habe nicht gewagt weiter zu fragen.
Dh. von 10 eng verwandten Zeitzeugen, habe ich lediglich von einer einzigen eine persönliche Aussage dazu, wie sie den Holocaust erlebte.