marco312
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Teil.II.
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Und Pace auf Erden
Der Raum des Ästhetischen, des Symbolischen und Moralischen, der ist heute hell erleuchtet und viel besucht. Das eigentliche, ernste Geschäft der religiösen Praxis wird woanders betrieben, und da ist es leer, dunkel und still.
Der Papst, das Amt, der verstorbene wie der neue Amtsinhaber sind den Leuten aus verschiedenen Gründen sympathisch: Es ist ein altes Amt, das älteste der Welt, und das beeindruckt in einer Zeit, in der Sechsundzwanzigjährige stolz erklären, sie könnten sich "an die Zeit von Helmut Kohl noch gut erinnern". Der Papst ist, wie sein Vorgänger, das, was alle immer sein wollen: authentisch. Er ist gewaltfrei. Die früher von allen antiklerikalen Büttenrednern so gern angeprangerten "päpstlichen Prachtpaläste" wirken neben den saudischen Luxushotels und dem Lebensstil eines Enron-Chefs bescheiden. Auch die politischen Fronten sind aufgeweicht. Seit Johannes Paul II. in manchen Reden so klang wie Attac, seit der Opposition zum Irak-Krieg, als an vielen Häusern die Regenbogenfahnen mit der Aufschrift "Pace" wehten, gefällt der Papst auch vielen Linken und Liberalen.
Größtenteils harmlos
Aber für Katholiken ist das nur bedingt eine gute Nachricht. Paradoxerweise fällt es um so leichter, den Papst gut zu finden, je weniger er Einfluß nehmen kann auf die individuelle Lebensgestaltung, je mehr auch hierzulande katholische Milieus, wie sie noch Heinrich Böll beschrieben hat, erodieren: Selbst CDU-Spitzenpolitiker lassen sich scheiden, haben Freundinnen, leben in homosexuellen Partnerschaften. Vom Vatikan geht keine Gefahr mehr aus. Den Papst gut zu finden, weil er das Ende der Beliebigkeit ankündigt - das ist eine beliebte und beliebig revidierbare Haltung. Der unbefangene Jubel so vieler hat auch damit zu tun, daß die katholische Kirche für sie harmlos ist. Vereinzelt wird das natürlich anders gesehen.
Schon zwei Tage nach der Wahl Ratzingers hat der frühere Mitarbeiter Bill Clintons und Kolumnist der Zeitung "Guardian", Sidney Blumenthal, vor einem neuen Kulturkampf gewarnt; er versucht nachzuweisen, daß die Wahl George W. Bushs direkt auf Ratzingers Brief an die amerikanischen Bischöfe vom Sommer 2004 zurückgeht, in dem stand, daß katholischen Politikern, die für liberalere Abtreibungsgesetze stimmen, die Kommunion versagt bleiben muß. Mehr als sechs Prozent der katholischen Wähler habe Bush danach hinzugewonnen, schreibt Blumenthal, und die hätten ihm den Sieg gebracht.
Das zeigt, wie tückisch es sein kann, wie John Kerry den Katholizismus so zur ungefähren Sphäre des Höheren und Symbolischen zuzurechnen, aus der alle Differenzen winzig erscheinen: Man kann zwar für das mächtigste Amt der Welt kandidieren, als Katholik um die Stimmen von Katholiken werben und darauf hoffen, daß die eigene abtreibungsfreundliche Haltung von vielen gutgeheißen wird - auch wenn das nicht die beste Strategie sein mag. Aber man kann es nicht als unfaire Einmischung bezeichnen, wenn die Kirche dann darauf hinweist, daß das im Widerspruch zu ihrer Glaubenslehre steht.
Aber die andere Seite des politischen Spektrums hat auch nicht lange gebraucht, die Wahl Ratzingers als Signal für den großen Umschwung zu ihren Gunsten zu deuten. Im "Wall Street Journal" fragte die republikanische Kolumnistin Peggy Noonan, warum all die jungen Leute in Jeans und T-Shirt mit ihren Rucksäcken gerannt kamen, als die Glocken des Petersdoms die Wahl eines neuen Papstes anzeigten. Ihre Antwort: "Wir wissen, was wahr ist. Irgendwie wissen wir es." Und sie schreibt, daß "wir" eine Art inneren Kompaß hätten, der in den "Norden der Wahrheit" zeigt, egal was der Zeitgeist und die Moden sagen. Aber wer ist "wir"? Nach meinem inneren Kompaß liegt Rom nicht im Norden. Wieder dieser Defekt.
Solche Begriffe, die symbolische Autorität des Papstes, der innere Kompaß, die christlich-abendländische Wertegemeinschaft, das christliche Menschenbild, haben den doppelten Nachteil, daß sie Nicht katholiken einschließen wollen und dabei den Kern des Glaubens weiträumig umfahren. Die zentrale rhetorische Figur der Kommentare hierzulande, das "wir alle" - wie in: "müssen sparen", "tragen Mitschuld", "sind betroffen und gefährdet" -, verbietet sich hier. Wir alle sind nicht katholisch. Wie sollten wir dann Papst sein?
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