Bekenntnis:
Mein Papstdefekt
Ist es neurologisch bedenklich, sich in diesen Tagen nicht katholisch zu fühlen? Woher kommt die Renaissance des Religiösen? Und lesen jetzt bald alle Ratzinger statt Harry Potter, fragt sich Nils Minkmar von der "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung".
Am Dienstag nachmittag sah ich folgendes im Fernsehen: einen eigenartig gestikulierenden Achtundsiebzigjährigen auf einem Balkon. Er trug ein seltsames Gewand, lächelte selig und sagte, sein Name sei jetzt Benedikt. Er behauptete, der Stellvertreter Gottes auf Erden zu sein. Ich muß ein Fall für Oliver Sacks sein. Ich verwechsle nicht meine Frau mit einem Hut, aber bedenklich ist mein Zustand schon, denn es ist mir ja rational ganz klar, daß dieser Mann jetzt Benedikt der Sechzehnte, der Nachfolger Petri auf dem Heiligen Stuhl ist. Aber ich schaffe es nicht, daran zu glauben. Nicht an Petrus. Nicht an Jesus. Nicht an Gott.
Man muß nicht glauben, um zu verstehen, sagt Habermas. Aber staunen wird man ja wohl noch dürfen: Über die vielen sympathischen Menschen, die jetzt jubeln und beim Tode des Vorgängers ergriffen waren, über die drei knienden amerikanischen Präsidenten - keiner von ihnen katholisch - an seinem Sarg und über die junge Römerin, die in ein Mikro sagte, sie sei schon sehr froh, daß es einen neuen Papst gebe, denn ohne Papst habe sie sich schutzlos und unbehütet gefühlt. Ich staune auch über Frankreich, wo der Innenminister de Villepin die Präfekten der Republik per internem Notfallwarnsystem - eigentlich für Naturkatastrophen, Reaktorunglücke und ähnliches vorgesehen - über den Tod des Papstes unterrichten ließ und sie dann dazu verpflichtete, in Uniform an den Gedenkgottesdiensten teilzunehmen. Hatte man da nicht unlängst ein Gesetz über die Verbannung aller religiösen Symbole aus staatlichen Einrichtungen beschlossen, das sogenannte Kopftuchgesetz? Und hat diese Anordnung etwas mit der Position des letzten Papstes im Irak-Konflikt zu tun, die eben genau die des heutigen französischen Innenministers ist? Vielleicht fehlt mir bloß das Sensorium, die wahre Inbrunst eines französischen Präfekten beim angeordneten Gebet nachzuvollziehen.
Spiritueller Totalausfall
Es könnte natürlich sein, daß ich mit meinem spirituellen Totaldefekt ein neurologischer Sonderfall bin. Aber ich kann nicht erkennen, daß die angebliche neue Konjunktur des Religiösen auch eine Änderung des Verhaltens, eine Intensivierung der spirituellen Praxis im Lande mit sich bringt. Mein Verdacht ist: Je mehr von Religion in den Medien die Rede ist, desto mehr zieht sie sich aus dem Leben der Zeitgenossen zurück. So wie in Indien, wo die Kinos wie verrückt Liebesfilme zeigen, weil die von den Eltern arrangierten Ehen ganz ohne romantischen Überschuß auskommen.
Dabei hört sich die These von der Renaissance des Religiösen so logisch an; sie läßt sich so flüssig hinschreiben: Nach dem Scheitern des Kommunismus. Nach dem Ende der Börsenbegeisterung. Nach dem 11. September. Lesen alle Ratzinger statt "Harry Potter". Und schuld, das erkannte Polylux-Moderatorin Tita von Hardenberg, sind die Achtundsechziger.
So könnte man das schreiben. Aber es stimmt nicht. Selbst die Katholiken, die ich kenne - und man muß ja schon gezielt danach fragen, zu welcher Konfession jemand gehört, um es zu erfahren; man kann es kaum noch aus dem Verhalten, dem Milieu, den Ansichten erschließen -, sind weniger fromm, weniger praktizierend, gehorchen weniger den Sittenlehren denn je. Klar, daß gerade die Vergebung, die Beichte, die Buße das Besondere am Katholizismus sind; daß also gerade der, der nicht nach den Regeln lebt, gerade der Sünder, sich zum Papst hingezogen fühlt. Aber man muß bei manchem der allerneuesten Papstfans unter den Medienkollegen schon murmeln: "ausgerechnet der" und hätte auch gar nichts dagegen wenn sich die neudeklarierten Papstanhänger wenigstens ab und zu an die allerelementarsten Eckpunkte seiner Sittenlehre, an zwei oder mehr der zehn Gebote hielten.
Die Zahlen sind deutlich: Kassen und Kirchen der deutschen Katholiken sind, wenn nicht gerade ein Papst stirbt, leer. Die konzeptionelle Hilfskonstruktion zwischen medialer und diskursiver Überrepräsentation und praktischer Vernachlässigung der katholischen Konfession ist der Begriff des Symbolischen. Die "symbolische Dimension" des Papstes sei halt wichtig, auch für Nichtchristen, heißt es jetzt gerne. Aber ist sie auch für Christen wichtig? Die symbolische Dimension, der gute Wille, das Uneigennützige und Philanthropische am Katholizismus, ist ja gerade nicht die religiöse Dimension. Man kann noch so viel Papstbücher kaufen und Papstsendungen schauen, den Papst noch so sehr gut finden - Katholik wird man dadurch nicht. Die Begeisterung für den Papst hat etwas Touristisches. Sie ähnelt dem Gestus, mit dem gebildete westeuropäische Großstadtbewohner etwa an den Fresken von Masaccio oder von Ghirlandaio in der Basilika Santa Maria Novella in Florenz entlangspazieren.
Pierre Bourdieu hat in einem kleinen Aufsatz von 1994 ganz eindringlich beschrieben, daß diese Kirche eigentlich zwei Räume beherbergt: Während ein Teil der Basilika als Museum fungiert, in dem Kunstinteressierte umherspazieren und ihre historischen und ästhetischen Erkenntnisse erweitern, gibt es einen anderen, in dieser Optik kaum erkennbaren Bereich, in dem tatsächlich gebetet wird und in dem Werke stehen, die sich vergeblich um Aufnahme in den künstlerischen Kanon bemühen würden - zu plastisch, zu bunt, zu populär. Doch gerade diese Werke werden religiös genutzt: Vor den anerkannten, berühmten Werken standen weder Betstühle noch Kerzen. Vor einer auf einen Wirklichkeitseffekt spekulierenden, ergreifenden Statue einer Madonna mit dem Rosenkranz hingegen schon. Hier kann man für 1000, 2000 oder 5000 Lire elektrische Kerzen brennen lassen, auf den Bänken knien Betende aller Altersgruppen, darunter, wie Bourdieu am Rande bemerkt, ein Junge mit einem Schulranzen.