Kurzgeschichte
Dienstag Vormittag. Jürgen sitzt im Physikunterricht bei Herrn Dr. Diegelmann. Die Sonne scheint zum Fenster herein und Dr. Diegelmann erklärt gerade irgendwas über Leiterschleifen und Induktion. Jürgen hört nicht zu. Physik interessiert ihn nicht besonders und Diegelmann ist eh ein *********, total unfair und er gibt ihm immer schlechte Noten, auch wenn er die eigentlich gar nicht verdient hat. Es ist also völlig egal, ob er sich bemüht oder nicht.
Irgendwie kotzt ihn zur Zeit sowieso alles an. Seine Eltern nerven ihn ständig mit irgendeinem Müll und machen ihm dauernd Druck, weil er in der Schule so schlecht ist. Jürgen muss an gestern denken. Da war ein Brief vom Gymnasium nachhause gekommen, in dem gestanden hatte, dass seine Versetzung schon wieder gefährdet ist und dass er, falls er erneut durchfällt, von der Schule verwiesen werden muss. „Was soll denn nur aus dir werden! Glaubst du, dass es leicht ist, heute einen Job zu finden?“ Mutter war heulend in ihr Schlafzimmer gelaufen, nach dem sie den Brief gelesen hatte.
Dafür hatte ihm sein Vater eine gescheuert, als er abends von der Arbeit heimkam. Dieser Drecksack. Er tat ja immer so, als ob er der Größte überhaupt wäre. Er war Abteilungsleiter in seiner Firma und verdiente ganz gutes Geld damit. Jürgen fand aber, dass er auch nur einer war, der seine Untergebenen mies behandelte und nach oben kuschte. Der Chef seines Vaters, Herr Brock, war erst vor Kurzem bei ihnen zum Essen gewesen. „Aber ja, sehr gerne Herr Brock. Selbstverständlich Herr Brock. Es macht mir gar nichts aus, Herr Brock. Ha, ha, ha, sehr guter Witz Herr Brock!“ So ging das den ganzen Abend über. Aber wenn sie alleine zuhause waren, tat sein Vater so, als ob er alles wissen würde und alles könnte. Er war früher im Sport ein absoluter Held, er hatte immer super Noten und natürlich waren alle Mädchen hinter ihm her gewesen. Und er hielt Jürgen für einen Versager, der es nicht wert war, sein Sohn zu sein. Er war von Jürgen maßlos enttäuscht und das ließ er ihn auch bei jeder möglichen Gelegenheit spüren.
Auch jetzt. „Gut, Jürgen. Du willst es auf die harte Tour? Du bekommst es auf die harte Tour! Ab jetzt gibt es kein Taschengeld mehr. Und du darfst nicht mehr weggehen. Aus. Vorbei. Und ich werde organisieren, dass du in meinem Betrieb einen Job im Lager kriegst, wenn du die Schule nicht schaffst. Und die schaffst du sicher nicht, so faul und dumm wie du bist! Ein Hilfsarbeiterjob ist alles, was du im Leben erreichen kannst. Wie kann so was nur mein Sohn sein, das verstehe ich nicht!“ Das war wieder mal wie ein Schlag ins Gesicht für Jürgen. Er wusste nicht, ob er losheulen oder seinem Vater auch eine reinhauen sollte. Er war traurig, aber auch ungeheuer wütend. Natürlich war er nicht der Schlauste, das wusste er selber, aber er bemühte sich doch. In der Schule, beim Fußball, zuhause. Aber alle hackten nur auf ihm rum.
Sein einziger Lichtblick im Leben war bis vor einigen Tagen Gabi gewesen. Sie ging in die Klasse unter ihm und er war schon seit Monaten in sie verliebt. Sie sah einfach umwerfend aus, hatte lange, blonde Haare, strahlend-blaue Augen und schon eine Wahnsinnsfigur. Sie war auch die Einzige, die ihn nicht auslachte, sondern die mit ihm lachte. Und wie sie lachen konnte... Sie verbrachten viel Zeit miteinander, hingen in der Pause immer zusammen auf dem Schulhof ab. Mit ihr konnte er auch über alles reden. Bis neulich alles schlagartig anders wurde. Jürgen hatte mit ihr zum Spaß gerauft und als er sie so in den Armen hielt, ihr in die blauen Augen sah und den unwahrscheinlich süßen Duft ihres Körpers roch, da wurde ihm ganz komisch zumute. „Jetzt oder nie!“ hatte er sich gedacht und versucht, ihr einen Kuss zu geben. Sie hatte aber schnell ihr Gesicht zur Seite gedreht und ihn ziemlich hysterisch angeschrien: „Bist du verrückt. Was soll denn das!? Du weißt doch, dass ich mit Mario zusammen bin!“ Für Jürgen brach in diesem Moment eine Welt zusammen. „Bitte... Gabi, es tut mir leid. Ich meine... ich wollte dir schon lange sagen, dass ich total in dich...“ Gabi unterbrach ihn. „Lass es, ok? Es hat keinen Sinn. Ich mag dich schon. Aber nur als Freund. Verstehst du. Sei mir nicht böse.“ Und dann ist sie einfach gegangen. Es war für Jürgen, als ob auf einmal die Sonne in seinem Leben untergegangen sei und es war von da irgendwie dunkel in seiner Seele, ein Schatten hatte sich auf sein Leben gelegt. Alles, was er wollte, war Gabi. Das war so, seit er sie kannte. Er wollte mit ihr zusammen sein, ihr Lachen hören, mit ihr reden, sie in den Arm nehmen.... Aber das konnte er jetzt vergessen. Seit dem er versucht hatte, sie zu küssen, ging ihm Gabi aus dem Weg. Er stand ab da ganz alleine auf dem Pausenhof rum. Freunde hatte er keine. Ab und zu sah er zu Gabi hin, aber sie erwiderte seine Blicke nicht, sondern drehte sich von ihm weg. Da war sie nun, so nah bei ihm, aber doch unerreichbar...
„Jürgen!“ Mensch, Jürgen!“ Dr. Diegelmann steht plötzlich vor Jürgens Schulbank, der dadurch jäh aus seinen Gedanken gerissen wird. „Ich habe dich was gefragt. Aber du musst mir ja nicht antworten. Du hast es ja nicht nötig, aufzupassen. Bei deinen tollen Noten.“ Die ganze Klasse lacht. Alle lachen ihn aus. Jennifer, die blöde Kuh in der ersten Reihe, muss noch eines draufsetzen: „Unser Jürgen ist nicht nur dumm sondern auch ein Schlappschwanz. Kein Wunder, dass ihn die Gabi nicht will!“ Und alle lachen noch mehr über ihn. „Lass das Jennifer!“ ermahnt sie Diegelmann. „Ob Jürgen ein Schlappschwanz ist, gehört nicht hier her. Mich würde viel mehr interessieren, ob er was über Induktion weiß. Was meinst du Jürgen, soll ich dich mal eben kurz ausfragen?“ „Äähh... bitte nicht!“ Jürgen ist noch immer nicht ganz klar mit seinen Gedanken, aber er sieht schon das nächste Unheil auf sich zu kommen. „Oh doch, ich glaube schon, dass wir das machen sollten. Komme nach vorne, Jürgen.“
Unter tosendem Beifall seiner Mitschüler geht Jürgen zur Tafel und nimmt die Kreide in die Hand. Er weiß, dass er keine Chance hat. Wie gesagt, Physik mag er nicht, Diegelmann mag ihn nicht und die ganze Klasse hat er auch gegen sich. „Also gut, erste Frage: Für welche Kräfte stehen die einzelnen Finger bei der Drei-Finger-Regel der rechten Hand bei der Bestimmung der Induktion im elektrischen Feld?“ Jürgen hat keine Ahnung. „Könnten sie... könnten sie bitte die Frage noch mal wiederholen?“ „Wenn du glaubst, dass das was bringt... Also, die Finger der rechten Hand. Für welche Kräfte stehen die? Du weißt doch hoffentlich, wo rechts ist?“ Die ganze Klasse bricht erneut ins Lachen aus, alle machen sich über ihn lustig und irgendwer wirft sogar mit einer leeren Dose nach ihm. Diegelmann ist so unfair. Diesen Witz hätte er sich wirklich sparen können. Und wieder weiß Jürgen nicht, ob er heulen oder einfach vor Zorn brüllen soll. Er steht da an der Tafel, ganz alleine. Keiner hilft ihm. Und es ist wie immer, er ist alleine, sein ganzes Leben lang...
Da der Spott seiner Mitschüler nicht aufhört, siegen Stolz und Wut in Jürgen. Er fährt den Mittelfinger der rechten Hand aus und streckt ihm Dr. Diegelmann demonstrativ entgegen. „Der hier steht für *******, sie *******!“ Für einen Moment werden alle still und Jürgen kommt sich richtig stark vor. Sollen sie doch alle gegen ihn sein, er lässt sich Nichts gefallen.