Der Weihnachtskalender
Als Lara, eine junge, attraktive Polizeianwärterin, Ende November ihre Polizeidienststelle betritt, Gutenmorgengrüße in die Runde der Kolleginnen und Kollegen wirft und fröhlich verkündet, dass sie von den Stadtwerken Weihnachtskalender für die Abteilung bekommen hat und sie sich munter daranmacht, diese auszuteilen —einen hängt sie an die Wand—, da unterbricht sie der diensthabende Kommissar, sammelt die Kalender wieder ein, reißt den von der Wand herunter und gibt Lara, der Überraschten, der Sprachlosen, den Stapel zurück.
»Ich dulde keine Weihnachtskalender in meiner Dienststelle!«
Unhörbar für Lara tuscheln zwei ältere Kolleginnen:
»Jetzt geht das schon wieder los«, die eine.
»Eigentlich müssten wir damit zum Personalrat«, die andere.
Lara bekommt auch nicht mit, wie der Kommissar, ein drahtiger, gut erhaltener Mittfünfziger, verstohlene Blicke mit ihren jungen Kollegen W. und P. tauscht.
Später, während ihrer Kontrollrunde zusammen mit dem hünenhaften P. am Hauptbahnhof, findet Lara keine Gelegenheit, das Thema Weihnachtskalender anzusprechen. Ein junger Obdachloser, den sie bittet, die Sitzbank von den unzähligen Plastiktüten —offenbar seine Habseligkeiten— zu befreien, schlägt unverhofft mit der Faust zu. Sofort fasst ihn P. beherzt an, drückt mit Bärenkräften Schulter und Kopf des Vagabunden auf die Bank. Dieser, ein nun hilfloser, verwahrloster Schwarzer, wimmert, während ihn beide Polizisten derart anbrüllen, dass sich eine Zuschauertraube um das Schauspiel bildet und mancher das Mobiltelefon zum Filmen zückt.
Erst kurz vor Feierabend fragt Lara den Kollegen P., was es mit dem unwirschen Kommissar und dem Weihnachtskalenderverbot auf sich habe.
»Willst Du das wirklich wissen?«
»Klar«
»Eine heikle Geschichte, ich weiß nicht, ob Du …«
»Hallo? Ich habe vorhin einen Faustschlag weggesteckt, also, was soll das?«
»Komm nachher in unsere Stammkneipe zum Feierabendbier. Wenn der Kommissar, der eigentlich ein Netter ist, bei Laune ist, erfährst Du vielleicht was.«
Im Lokal verfügen die Polizisten der Wache über einen eigenen Raum. Am Tisch sitzt der Kommissar zusammen mit P., W. und Lara. Man prostet sich zu, man trinkt, die Bedienung versorgt sie unermüdlich mit frischen Biergläsern und belegten Brötchen. Leonard Cohen jault aus einem unsichtbaren Lautsprecher »So long, Mariaaane ...«
Endlich spricht der Kommissar.
»Du willst wissen, warum ich Weihnachtskalender ablehne.«
Der Kommissar fixiert Lara mit mittlerweile vom Bier und der Kneipenluft glasigen Augen, als wolle er sie taxieren, als wolle er abschätzen, was er der jungen Frau zumuten könne.
»Vor 10 Jahren wurden wir in eine Wohnung gerufen. Ein Mann war zusammengebrochen, wahrscheinlich ein Herzinfarkt. Der Notarzt versorgte ihn gerade und ich erkannte im Patienten einen alten Schulkameraden.
In der Wohnung fanden wir zwei weitere Personen vor. Einen vollbärtigen Riesen in einer braunen Kutte, dessen breitschultrige Erscheinung die Wohnung verfinsterte und eine blonde, umwerfend attraktive Frau, schlank und athletisch, eine um einen Kopf größere Sharon Stone, wenn Dir der Film “Basic Instinct” etwas sagt, Lara. Diese Zwillingsschwester von Sharon Stone wies sich als die Mieterin der Wohnung und als Russin aus. Der Kerl, ich nenne ihn mal …äh … Rasputin, war ebenfalls Russe. Beide sprachen nur gebrochen Deutsch.
Eigentlich hatten wir da nichts weiter zu suchen. Es gab zwar Anzeigen wegen Ruhestörung, laute, nächtelang andauernde Schreie und Gepolter, aber eine Ermahnung hätte vollkommen gereicht.
Ich fühlte mich jedoch meinem kranken Schulfreund irgendwie verpflichtet und suchte die Wohnung nach Verdächtigem ab. Ich fand Kisten mit leeren Wodkaflaschen, in einer Ecke stapelten sich benutzte Medikamentenverpackungen: Aspirin, Ibuprofen, Paracetamol, Alka-Seltzer. Den größten Haufen stellten aber jene bekannten, die männliche Potenz steigernde Mittel.
Als ich im Schlafzimmer Instinktiv, ohne mir dabei was zu denken, an einem Stofftuch, das sich als Abdeckung eines Vogelkäfigs entpuppte, zog, weckte ich den Papagei auf, der mich erst schräg ansah und dann mit menschlicher, ja weiblicher Stimme anschrie:
“Fesssterrrr ….mach weiterrrr … nicht aufhörren! …. schneller …. fester …. isch komme! … isch kommeeee!!”
Neben mir schnappte sich Rasputin das Tuch und deckte lachend den Käfig wieder ab: “Vvogell musss schlaffen!”
Auf der Schlafzimmerkommode entdeckte ich einen Weihnachtskalender, dessen Türen bis zum 18. geöffnet waren. Beim Vorbeigehen steckte ich heimlich einen Haufen zerknüllter Zettel, die um den Kalender herumlagen, ein. Wir verließen die Wohnung.
Als ich im Krankenhaus meinen Schulfreund, nennen wir ihn … äh … Larry, besuchen durfte —er bot einen jämmerlichen Anblick dar, war aber bei Bewusstsein und ansprechbar— erzählte er mir, er kenne die Russin aus einem einschlägigen Internetforum. Sie hätten sich ein paar mal getroffen und schließlich eine Wette abgeschlossen. Die Wette ging so: Larry übergab der Russin 48.000,- € bar im voraus. Das Prinzip der Wette bestand darin, dass die Russin viel Liebe wolle, also täglichen Sex. Wenn Larry an einem Tag seine Pflicht erfüllte, bekam er 2.000,-€ zurück. Wenn nicht, standen die 2.000 der Russin zu. “Geld oder Liebe”, stammelte Larry gequält mit schmerzverzerrtem Gesicht. Der Weihnachtskalender legte den täglichen Sex-Tribut fest, den Larry der Russin abliefern sollte. Jede Tür barg einen Zettel, der in gebrochenem Deutsch und mit schlüpfrigen Zeichnungen die abzuleistenden Taten beschrieb. Wenn eine grob gezeichnete nackte Frau mit weit aufgerissenem Mund und ausgestreckter Zunge, die offenbar einen Flüssigkeitsstrahl empfängt, die folgende Zeichnung die Nackte auf allen Vieren mit ausgestrecktem Hintern darstellte, so musste Larry mindestens zweimal in der jeweils dargestellten Stellung ejakulieren. Manchmal gab es drei Bildchen pro Zettel.
“Das waren die leichten, die einfachen Aufgaben”, flüsterte mir der verkabelte Larry im Krankenbett zu, “ab dem 10. Türchen tauchte ihr Gefährte, dieser Rasputin, in den Bildern auf und ich musste mich zusammen mit dem Koloss an ihr abarbeiten. Die Anwesenheit dieses Kerls, sein gezückter, riesiger Prügel, das laute, ihn anfeuernde Lustgeschrei der Russin, schüchterten mich derart ein, dass ich ab und zu versagte. Rasputin, ein netter Mensch, half mir wie ein besorgter Bruder. Erst gab er mir die blauen Pillen, wir steigerten die Dosis und, falls das immer noch nicht wirkte, versuchte er, mich bei ausgeschaltetem Licht bei der Russin zu vertreten —so wie man sich die Hochzeitsnacht von Gunther und Brunhild im Nibelungenlied vorstellt, als Siegfried in seiner Tarnkappe den überforderten Gunther bei der Begattung Brunhilds aushalf—, aber die Russin ließ sich nicht täuschen und erzürnte:
“Das nischt Lärrry, isch spürrren, Du Trrrottell, Larry vviel kleinerrr und dünnerrr…”. Dann behielt sie die fälligen 2.000,-€ für sich ein.”
“Was gedenkst Du jetzt zu tun und wie geht es Dir?”, fragte ich ihn.
“Ich gedenke gar nichts, mein Freund, ich stehe auf der Warteliste für ein neues Herz, bin nur noch ein Wrack.”«
Der Kommissar hält inne. Dann fährt er mit seiner Erzählung fort.
»Es gab mir einen heftigen Stich, meinen einst stolzen Schulfreund gebrochen zu sehen. Ich suchte die Wohnung der Dame in Begleitung der Mannschaft auf. Diese Russen mögen zwar aus unserer Sicht Übermenschliches vollbringen, wenn sie, maßlos und unersättlich ihren Leidenschaften frönen, der Obrigkeit aber folgen sie. Das furchtbare Joch der Tataren hat ihnen diesen blinden Gehorsam eingeimpft. Kurz: wir hatten zwar keine legale Handhabe gegen sie, wir durchsuchten trotzdem jeden Winkel der Wohnung und fanden drei benutzte Weihnachtskalender. Die Russin fuhr anscheinend drei Schichten, morgens, nachmittags und nachts den armen Larry.
Ich ermahnte beide scharf, packte das Konvolut aus Kalendern und Zetteln zusammen und ließ es in der Wache verbrennen.
Seitdem muss ich beim Anblick eines Weihnachtskalenders an Larry denken, den ich oft an Sonntagen in seinem Rollstuhl spazieren schiebe. Einmal fasste er meine Hand, blickte mir in die Augen und weinte:
»Ich habe es nur bis zur 18. Tür geschafft.«
Da sein Austauschherz ihm kaum körperliche und geistige Anstrengungen erlaubt, verbringt er seine Tage vor dem Rechner in einem Computerforum, in dem er sich mit anonymen Internetjunkies herumstreitet.
Da ist es doch nur verständlich, liebe Kollegin, dass ich mir diese traurigen Bilder und Gedanken an meinem Arbeitsplatz ersparen möchte.«
Lara hat es plötzlich eilig, aufzubrechen. Der Riese P. verabschiedet sie am Ausgang. Auf dem Nachhauseweg —P. und W. radeln nebeneinander her—, meint P.:
»Heute Nacht müssen entweder ihr Freund, falls sie einen hat, oder ihr Dildo Überstunden schieben. Hast Du gemerkt, wie ihre Hand ums Bierglas zuckte? Wie sie ihren Hintern auf dem Stuhl hin und her gerieben hat, als würde ihre Unterwäsche festkleben? Und Ihre Gesichtsfarbe, während der Kommissar den Papagei nachgespielt hat?«
»Er ist ein Genie, unser Kommissar, die reinste Verschwendung als Polizist, er sollte zum Fernsehen Drehbücher schreiben! Wie er das Vogelviech und den Rasputin improvisiert hat!«
»Ich konnte mich kaum beherrschen, und er ist dabei so ernst geblieben!«
»Entweder auf der Weihnachtsfeier oder spätestens zu Karneval werde ich ihr den Rasputin spielen!«
»Und ich den Larry, aber ohne Rollstuhl«, lacht W.