NZZ Online, 28. November 2005
Gesehen in der NZZ Online. Beschreibt einige Sachverhalte die schon hier diskutiert wurden.
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Der Preis des Wachstums im Reich der Mitte
Umweltrisiken als neue Herausforderung für China
Seit bald zwei Jahren gilt für das chinesische Wirtschaftswachstum das Prinzip der nachhaltigen Entwicklung. Die Umweltkatastrophe in der Nähe von Harbin ruft die ökologischen Herausforderungen in Erinnerung, mit denen sich Chinas wirtschaftlicher Modernisierungsprozess konfrontiert sieht.
Industrieunfälle, welche die Umwelt in schwerwiegendem Ausmasse in Mitleidenschaft ziehen, sind kein typisch chinesisches Schicksal. Katastrophen können sich in den fortgeschrittensten Industriestaaten ereignen. Hier wie dort pflegen spektakuläre Ereignisse sogleich die Medien mit düstersten Prognosen auf den Plan zu rufen. So gibt es nach dem gefährlichen Chemieunfall in Harbins Nachbarschaft genügend Stimmen innerhalb und ausserhalb Chinas, die schwerwiegende Konsequenzen beschwören. Tatsache ist, dass es in der Volksrepublik bei einer rechtzeitigen, glaubwürdigen und offenen Information der Öffentlichkeit über Katastrophen enorme Defizite gibt. In der Tat war der jüngste Chemieunfall im nordöstlichen China, der weite Landstriche, unzählige Siedlungen und auch die Millionenstadt Harbin in Mitleidenschaft gezogen hat, ein Ereignis mit verheerenden Konsequenzen. Dennoch gilt es, die Proportionen zu wahren. China hat während der letzten 25 Jahre eine industrielle Entwicklung durchgemacht, wie sie in der jüngeren Weltgeschichte in kaum einem anderen Land mit solcher Breiten- und Tiefenwirkung realisiert worden ist. Mit Rücksicht auf die in der Regel sehr spät reagierenden Behörden muss zweifellos gelten, dass es enormen Nachholbedarf gibt. Gleichzeitig gilt es zu berücksichtigen, dass im Verhältnis zum tatsächlichen Fortschritt die Rückschläge begrenzt sind.
Langsames Umdenken der Führung
In der Regel wird Umweltbelastung mit einem hohen Lebensstandard in Verbindung gebracht. Tatsache ist, dass in grossen Teilen der Welt Armut und Unterentwicklung zu den wichtigsten Ursachen von Umweltzerstörung gehören. Auch der Prozess einer beschleunigten Überwindung der Rückständigkeit erfordert seinen ökologischen Preis. Häufig werden Umweltbelange, die sich später als sehr wichtig erweisen, im Interesse einer kurzfristigen Entwicklung über Bord geworfen. In China war dies während des letzten Vierteljahrhunderts häufig der Fall. So hat auch das Jahrhundertwerk der Drei-Schluchten-Staumauer zu Recht scharfe ökologische Kritik ausgelöst. Kurz nach der Machtübernahme der vierten Führungsgeneration hat vor rund zwei Jahren Ministerpräsident Wen Jiabao die Notwendigkeit einer Kursänderung herausgestrichen. An die Stelle des zuvor geltenden Wachstums um jeden Preis sollte ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum treten, wobei die Nachhaltigkeit sowohl mit der Bekämpfung des rasch wachsenden Reichtumsgefälles als auch mit der Begrenzung des Rohstoffverbrauchs und einem sorgsameren Umgang mit der Umwelt erklärt wurde.
Wie das auch in diesem Jahr unvermindert hohe Wirtschaftswachstum zeigt, fällt es offensichtlich schwer, diese neue Zielvorgabe speditiv umzusetzen. Die reichen und erfolgreichen Wirtschaftsregionen wollen sich nicht ohne weiteres eine Selbstbeschränkung auferlegen lassen. Warum sollen die Wachstumspotenziale nicht voll ausgeschöpft werden? Das Argument, dass man sich nun, da endlich die Erringung eines breiten Wohlstands möglich scheint, nicht voreilig selbst beschränken soll, findet eine willige Gefolgschaft. Schliesslich hätten auch die westlichen Industrienationen über Generationen hinweg die Belastbarkeit der Umwelt schonungslos ausgereizt.
Systembedingte Achillesfersen
Sei es bei der Lungenseuche Sars, bei dem gemäss der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) weltweit miserabelsten Ausweis für Sicherheit am Arbeitsplatz, bei den mit schrecklicher Regelmässigkeit vorkommenden Unfällen in Kohlenbergwerken oder eben bei der jüngsten Umweltkatastrophe, Chinas Schwierigkeiten werden durch systembedingte Mängel noch erheblich verschärft. Die Vertuschung von Zwischenfällen durch Behörden, die zu keiner demokratischen Rechenschaftsablegung gehalten sind, die gewaltige Korruption, die ihre Ursache auch in der fehlenden Rechtsstaatlichkeit hat, sind Folgen des herrschenden Systems. Diese Faktoren sollten ausländische Unternehmen, die sich in China engagieren, stets in ihr Risikoprofil einbeziehen. Ein Unfall wie jener von Harbin ruft im Grunde genommen bloss in besonders drastischer Manier diese schwerwiegenden Achillesfersen Chinas in Erinnerung.
Anders als zu Maos Zeiten können katastrophale Grossereignisse im heutigen China nicht mehr unter Verschluss gehalten werden. Man erinnert sich an Sars, als nach verhängnisvoller Verzögerung und schwerwiegenden Versäumnissen die Behörden schliesslich mit beispielhafter Effizienz durchgriffen. Auch im jetzigen Fall ist an den Versäumnissen bereits scharfe Kritik geäussert worden. Es ist dies zum einen eine Folge der internationalen Vernetzung Chinas. Zum anderen schlägt sich in dieser Entwicklung aber auch die Tatsache nieder, dass es im Reich der Mitte inzwischen moderne städtische Mittelschichten gibt, die wie überall in der Welt Umwelt- und Sicherheitsanliegen einen hohen Stellenwert einräumen und die sich aller staatlichen Zensur zum Trotz auch kompetent zu informieren vermögen.
Ausländische Sündenböcke gesucht?
Es ist vor diesem Hintergrund sehr wahrscheinlich, dass Peking in der nächsten Zukunft einen verstärkten Akzent auf Umweltbelange legen wird. Dabei könnte es der Führung opportun erscheinen, den Fokus auf ausländische Firmen, die in China tätig sind, zu legen und möglicherweise die Aufdeckung von Umweltsünden mit einem durchaus nicht unprofitablen xenophoben Unterton zu verbinden. Es ist deshalb für ausländische Wirtschaftsakteure in der Volksrepublik ratsam, die ökologischen Implikationen ihrer Tätigkeit sorgfältig zu überprüfen und Missstände rasch zu beheben. Nur allzu leicht kann man über Nacht zum Sündenbock werden. Mehrere multinationale Gesellschaften haben dies im vergangenen Frühjahr zu spüren bekommen, als ihre Produkte wegen Mängeln ins Visier der Medien gerieten. Plötzlich meldeten sich da ziemlich virulente Vertreter von Konsumenteninteressen zu Worte.
Damals gehörte auch der Schweizer Multi Nestlé wegen Verunreinigungen in seinen Milchprodukten zu den Betroffenen, mit kurzfristig namhaften Folgen für den Absatz seiner Produkte. Es ist gerade dieser Konzern, der bei der jüngsten Katastrophe beispielhaft gehandelt hat. Joe Müller, der unter den Schweizer Managern in China zu den erfahrensten gehört, ordnete die Entsendung substanzieller Mengen von Trinkwasser ins betroffene Harbin an, eine Geste, die genau das trifft, was die neuen urbanen chinesischen Mittelschichten von einem auch am Gemeinwohl interessierten Unternehmen erwarten.
Quelle: 28. November 2005, Neue Zürcher Zeitung,
http://www.nzz.ch/2005/11/28/wi/articleDD35Z.html