Dein Pianisten Vergleich hinkt gewaltig. Es ist der Mensch, der das Instrument erlernt. Man könnte es vielmehr so sehen wie ein Konzertpianist, der jetzt Hammondorgel lernen will (muss).
Klar, und dann spielt er darauf Rachmaninoff. Ich wette, Lang Lang kann damit auch die Halle füllen - einmal. Wenn das so wäre, hätte Apple allerdings wirklich Mist gebaut. Wer will eine Hammond, wenn es als Piano verkauft wird und darauf die Botschaft prangt: "Jetzt alles ganz neu, besser und awesome!"
Software ändert sich ständig. Neue Technologien, GUIs, Bedienkonzepte, Sicherheitsstandards, Möglichkeiten, Einschränkungen, Softwarefirmen werden aufgekauft, gehen Pleite, usw. Das ist Realität in der Computerwelt.
Wenn ein Mensch (Unternehmen) sich von dieser Software abhängig macht, tja, dann ist er an diese Turbulenzen gekoppelt.
Apple hat ein wirtschaftliches Interesse (Profit). So aus dem Bauch heraus glaub ich, dass Pro Software nicht sehr profitabel ist (komplexe Programme, geringe Stückzahlen).
Das sind alles Binsenweisheiten, die im Einzelfall soviel wert sind, wie der geistliche Zuspruch des Priesters vor dem nahen Krebstod: "Jeder muß sterben, mein Sohn! Gott gibt, Gott nimmt". In diesem Fall eben Steve. Er hat's gegeben, er hat's genommen. Das war sein gutes Recht.
Ich kann auch mit FCPX arbeiten - irgendwann. Ich habe es in den letzten Wochen getestet und finde viele Sachen besser gelöst. Im Moment bin ich aber mit FCP noch deutlich schneller und kreativer unterwegs. Da passt sich das Programm meinem kreativen Workflow an, nicht umgekehrt.
Bei Pro Cuttern sieht die Sache anders aus. Die wechseln zu anderen Herstellern, die genau das bieten, was sie wollen. Dabei geht es in erster Linie nicht um die Features, die kann man irgendwann nachrüsten. Wichtig ist etwas anderes: das Vertrauen in den Hersteller seines Werkzeuges, das man tagtäglich 10-12 Stunden nutzt. Investitionssicherheit. Das hält jeder mit seiner Solar-, Heizungsanlage oder seinem Auto, selbst wenn es weiterhin fährt, genauso. Da erwartet man einfach, dass der Hersteller auch weiterhin Support leistet und Reparaturen ermöglicht und das nicht nur für das aktuelle Modell, mit dem der Umsatz generiert wird.
Wenn Apple einen radikalen Schnitt macht und gestandenen Künstlern (ja, Schnitt ist ein Kunst) und profanen Handwerkern beispielsweise die vertrauten Spuren wegnimmt, mit denen sie seit 20 Jahren arbeiten und durch etwas ersetzt, das für
deren Arbeit nicht besser ist, dann ist das Vertrauen in diesen Hersteller erschüttert. In der Profibranche ist Vertrauen einfach unerlässlich. Dort bindet man seine Arbeitskraft und jahrelanges Lernen nicht an einen Hersteller, der kein Interesse an anstrengendem Support und letztlich vergleichsweise unprofitablem Geschäft hat. Das Apple hier kein Vertrauen genießt, zeigen ja selbst viele Postings anerkannter Macuser.de-Fanboys, die trotz Awesomness ebnfalls in diese Richtung spekulieren. Es wird dauern, bis Apple diese Liebesgeschichte wieder beleben kann. Glaubt man den Verlautbarungen, wollen sie das.
Um die Profidenke mal etwas plastischer zu machen. Hier sind ein paar Zitate von gestern aus dem
www.final-cut-pro.de Forum:
"Und man muss das sehr wohl mit FCP vergleichen, denn es ist der Ablöser für FCP. Final Cut Pro Ten (X). Und das schreibt mir meinen Workflow vor, behindert mich damit aber in meiner Kreativität. Ich denke nämlich anders als das Programm. Und im professionellen Bereich ist es fast immer doof, wenn Programme für einen denken."
"Es gibt vielleicht Millionen von Filmen, die man darauf schneiden kann. Das, was ich in der Regel mache, geht da sicher auch. Aber den Stil, den ich habe, kann ich mir darauf kaum vorstellen. Es ist nicht einzig die Technik, die einen Filmschnitt ausmacht."
"'Handlungen erzeugen' - das allein zeigt einem dass hier zwar vielleicht technisch begabte Programmierer am Werk waren, aber keine Spezialisten in Sachen Filmherstellung. Module hin oder her - das ganze Konzept ist Grütze. Wenn das 'Pro' da nicht stünde, wäre es okay - aber aus Pro Sicht ist das Mist. Und wird sich nicht durchsetzen können."
"Wir wissen auch, dass es Leute gibt, die X großartig finden, aber nach über 2 Jahren Entwicklungszeit und das von einer Firma, die wie kaum eine andere über finazielle Mittel verfügt und das Potential hat ein wirklich revolutionäres Produkt zu launchen, kommt dann mit so einer halbgaren "Gummibärchen" Software um die Ecke??? Kreativ hin oder her, aber ich kann dieser Nummer nur mit Häme begegnen!!! Ich hätte mich wirklich gerne auf etwas "Neues" eingelassen, aber da muss einfach auch der Rest stimmen!!!"
"Pro User sind unangenehme Vögel (wie man an mir sehr gut sehen kann). Ständig neue Anforderungen, neue Wünsche und und und. Wenn das nicht Dein Kerngeschäft ist, wie bei Avid oder Adobe, dann ist das ein großer Aufwand.
"Im Prinzip clever gemacht: wir machen etwas, was iMovie User awesome finden. Das ist dann eine größere Zielgruppe als Studios und Broadcastfredls. "
Gegen diese Aussagen kann man im Einzelfall argumentieren - was viele Poster auch machen. Fakt ist aber eins: wenn Apple weiterhin ein professionelles, hollywoodtaugliches Schnittprogramm anbieten möchte, das mit der Konkurrenz mithalten kann und als Profilösung anerkannt sein will, wird es das nicht mit dem jetzigen FCPX-Konzept bewerkstelligen können. Der Spagat, die Bedürfnisse von Hochzeitsfilm- bzw. Urlaubsvideo-Cuttern mit denen von TV- und Blockbuster-Cuttern unter einen Hut zu bringen, wird irgendwann zu groß. Dafür braucht es mittelfristig ein Programm, dass darüber positioniert ist und dem Anwender nicht nur die Features, sondern auch deutlich mehr Freiheiten gibt, diese auch zu nutzen.
Mit ein paar Optionsdialogen mehr wird das nicht getan sein. Neue Features, selbst wenn sie "Awesome" sind, bringen nichts, wenn sie im Workflow auf Anwender zugeschnitten sind, für die Ripple&Roll ein Umzugsunternehmen aus den gelben Seiten ist.
Gruß
E. P.