Der Graf von West
Als Dreizehnjähriger war ich über beide Ohren in meine Schulkameradin Anna - blond und schlank, ein Engelsgesicht wie aus der Coca-Cola-Werbung geschnitten - verknallt. Ich schwärmte und schmorte und liebte im Geheimen. Zumindest dachte ich so.
Eines Schultages, während des Unterrichts, fasste ich mir ein Herz und schrieb ihr eine Nachricht. Ich faltete das Stück Papier so zusammen, dass ein "Für Anna" oben sichtbar blieb und reichte es meinem Tischnachbarn verstohlen weiter. Lag's am Ungeschick der weiteren Boten? Lag's an ihrer Böswilligkeit, ihrem Gekicher?
Tatsache ist, die Lehrerin - groß und fett – griff sich, wie ein Habicht im Sturzflug, den Papierfetzen, stieß ein "Aha!" aus, verzog das Gesicht, als ob sie sich davor ekelte, und las meine Nachricht an Anna unter dem Gelächter der Klasse laut vor, jedes Wort betonend, als ob sie Begriffsstutzigen den Inhalt erklären müsste.
Dann beugte sie sich zu mir herunter und kam mir so nahe, dass ich ihren bitteren Atem riechen und einatmen musste: "Du-bist-es-ge-we-sen!", schnatterte sie, die Faust mit dem zerknüllten Papier wie zu einem triumphalen Gruß hochhaltend, "Endlich haben wir unseren Grafen von West gefunden!!".
Die Klasse explodierte. Jubel, Geschrei, man schlug mir von allen Seiten auf Schulter und Rücken, man verhöhnte mich, einige tanzten auf den Schulbänken, der Wahnsinn brach aus. Woher wusste diese Hexe, dass ich's gewesen war?
Die Lehrerin stellte die Ordnung schlagartig wieder her. Erst gratulierte und umarmte sie Anna - das hast Du gut gemacht, Mädchen! -, dann gab sie knappe Anweisungen, die unmittelbar befolgt wurden, als ob es sich um einen einstudierten Plan handelte. Tische wurden verrückt, Stühle in Reihen geordnet, vorne bildeten mehrere Tische eine Plattform - eine Bühne? Wie aus dem Nichts zauberte jemand mittelalterliche Kostüme, Schwerter, Lanzen, eine Krone und ein Steckenpferd her.
Die zwei Klassenschläger, beide groß, beide stark, beide dumm wie Stroh, beide standen im Ruf, Annas Günstlinge zu sein, diese zwei zwangen mich in das für mich bestimmte, gräfliche Gewand. Sie machten sich einen Spaß daraus, mir das Steckenpferd schmerzhaft zwischen die Beine zu pressen und wichen mir nicht mehr von der Seite, bis die Lehrerin - jetzt plötzlich eine gekrönte Königin vorne auf der Bühne stehend, vor der zuschauenden Klasse und neben ihr, sitzend, Anna, Königintochter und Prinzessin - bis die Königin also den Beginn des Stückes ausrief.
Die Aufführung
Erzähler: „Am Morgen von Sankt Johannis reitet der Graf von West früh aus, um an der Flussmündung am Meeresufer sein Pferd zu tränken. Während das Pferd trinkt, singt der Graf so wunderschön, dass die vorbeiziehenden Vögel landen, um zuzuhören.“
Einer der Schläger flüstert mir drohend zu: "Sing, Du Idiot!!"
Erzähler: „Die Königin im Schlossturm lauscht dem Gesang des Grafen von West.“
Königin: „Höre, Tochter, wie die Meeresjungfrau singt.“
Prinzessin: „Das ist nicht die Meeresjungfrau, Mutter, die singt doch nicht! Es ist die Stimme des Grafen von West, der aus Liebe zu mir leidet.“
Königin (empört): „Wenn er aus Liebe zu Dir schmachtet, so werde ich ihn töten lassen, denn, um Dich zu heiraten, fehlt im das königliche Blut!“
Prinzessin (scheinbar betroffen, scheinbar weinend): „Lasst Ihn nicht töten, Mutter, befiehlt nicht seinen Tod, denn wenn Ihr ihn tötet, werdet Ihr uns zusammen begraben müssen!“
Königin (von Raserei gepackt): „Tötet ihn! Tötet ihn! Tötet ihn mit der Lanze und werft die Leiche ins Meer!“
Da stürzen beide Ritter mit Lanze und Schwert auf mich zu. Ich sehe noch, wie Anna schadenfreudig grinsend von der Bühne aus auf uns herabblickt. Jeder Schlag, den mir die zwei Schergen verpassen, scheint sie zu erregen. Ihre Augen leuchten, ihre Backen glühen. Endlich holt einer von beiden zum Todesstoß aus, hält zunächst prüfend das Schwert in der Luft, dann sticht er mir mitten ins Herz und dreht es dort mehrmals.
Ich denke noch: "Wie ein Hund". Als ob das Schamgefühl mich überleben sollte.
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"Aber Du lebst noch", stellte einer aus der Gruppe meiner um mich versammelten Freunde trocken fest.
"Sicher, ich trug nur blaue Flecken davon. Allerdings war ich von der Schwärmerei für hübsche Mädchen für immer geheilt."
"Und daher rührt der Name Deiner Firma her - Graf von West?".
"Ja."
"Und was ist aus Anna, der Lehrerin, und den zwei Schlägern geworden?".
Anna wurde dick und unansehnlich. Sie starb vor Jahren an Gebärmutterkrebs. Wahrscheinlich hat sie es mit den Kerlen zu heftig getrieben, nur mit mir nicht.
Die Lehrerin, eine Lesbe, lebt noch mit ihrer Partnerin im Altersheim. Beim letzten Klassentreffen hat sie mich nicht mehr erkannt.
Einer der Schläger wanderte aus, es heißt, er habe die Hälfte seines Lebens im Knast verbracht. Der andere wurde Polizist."
So saßen wir in wehmütiger Stimmung noch lange vor unseren Biergläsern und erzählten.