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Die Deutscharbeit
Den folgenden Aufsatz, eine Textinterpretation, verfasste der Gymnasiast Mort Cinder in der 12. Klasse. Der zu interpretierende Text, eine Kurzgeschichte von Kafka, lautet:
„Auf der Galerie
Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der Manege auf schwankendem Pferd vor einem unermüdlichen Publikum vom peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef monatelang ohne Unterbrechung im Kreise rundum getrieben würde, auf dem Pferde schwirrend, Küsse werfend, in der Taille sich wiegend, und wenn dieses Spiel unter dem nichtaussetzenden Brausen des Orchesters und der Ventilatoren in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft sich fortsetzte, begleitet vom vergehenden und neu anschwellenden Beifallsklatschen der Hände, die eigentlich Dampfhämmer sind – vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch alle Ränge hinab, stürzte in die Manege, rief das – Halt! durch die Fanfaren des immer sich anpassenden Orchesters.
Da es aber nicht so ist; eine schöne Dame, weiß und rot, hereinfliegt, zwischen den Vorhängen, welche die stolzen Livrierten vor ihr öffnen; der Direktor, hingebungsvoll ihre Augen suchend, in Tierhaltung ihr entgegenatmet; vorsorglich sie auf den Apfelschimmel hebt, als wäre sie seine über alles geliebte Enkelin, die sich auf gefährliche Fahrt begibt; sich nicht entschließen kann, das Peitschenzeichen zu geben; schließlich in Selbstüberwindung es knallend gibt; neben dem Pferde mit offenem Munde einherläuft; die Sprünge der Reiterin scharfen Blickes verfolgt; ihre Kunstfertigkeit kaum begreifen kann; mit englischen Ausrufen zu warnen versucht; die reifenhaltenden Reitknechte wütend zu peinlichster Achtsamkeit ermahnt; vor dem großen Salto mortale das Orchester mit aufgehobenen Händen beschwört, es möge schweigen; schließlich die Kleine vom zitternden Pferde hebt, auf beide Backen küßt und keine Huldigung des Publikums für genügend erachtet; während sie selbst, von ihm gestützt, hoch auf den Fußspitzen, vom Staub umweht, mit ausgebreiteten Armen, zurückgelehntem Köpfchen ihr Glück mit dem ganzen Zirkus teilen will – da dies so ist, legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlußmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen.“
Die Deutschlehrerin (Deutschlehrer sind immer weiblichen Geschlechts, Ausnahmen sind bedenklich und bestätigen diese Regel) stellte folgende, in Aufsatzform zu beantwortende Frage:
„Warum weint der Galeriebesucher?“
Nachfolgend ist Morts Text ungekürzt wiedergegeben:
„Warum der Galeriebesucher weint? Das ist wieder einmal eine Frage, die nur den seltsamen Gehirnwindungen einer Germanistin auf Lehramt entspringen kann. Warum er weint? Woher sollen wir das wissen? Können wir etwa Franz K., der vor fast 100 Jahren gestorben ist, dazu fragen? Niemand, niemand kann mit Gewissheit behaupten, warum der Galeriebesucher weinen soll ... womöglich weint er ja gar nicht.
Ich erlaube mir einen Exkurs:
Deutscharbeiten sind der größte Mist. Gedichts- und Textinterpretationen sind Dreck, überflüssiger Müll. Besonders unangebracht sind Interpretationen von Kafkas Werk, verfügte Kafka bekanntlich, seine Texte nach seinem Tod zu verbrennen. Stattdessen quälen Germanisten auf Lehramt Generationen von Schülern mit unsinnigen Interpretationsfragen zu seinen, Kafkas, Geschichten.
Perfider kann man den Willen eines Toten nicht erfüllen.
Andererseits, was kann man von sogenannten Germanisten auf Lehramt erwarten?
Die Deutschlehrer - besser: die Deutschlehrerinnen - stellen eine Klasse von schwafelnden, gefühlsbeladenen, hysterischen, eher unattraktiven, politisch links-grün und immer feministisch geprägten, schwer erträglichen Subjekten dar.
Aber bitte, wer für eine anständige Disziplin wie Physik, Mathematik, Informatik (oder meinetwegen auch Biologie und Chemie) die intellektuellen Voraussetzungen nicht mitbringt, der oder die studiert Germanistik (auf Lehramt).
Ende des Exkurses.
Nachdem ich mich mit diesen Ausführungen geistig „entlastet“ und dem normal denkenden Volk Abbitte dafür leiste, dass ich mich zu dieser „Interpretation“ herablasse (irgendwie muss ich ja meine Schülerpflichten erfüllen), fahre ich fort mit der Beantwortung der Klausurfrage, warum der Galeriebesucher weine.
Erste Hypothese.
Der junge Galeriebesucher entstammt einer armen Familie, sein innigster Wunsch als Kind war es gewesen, ein Pferd zu besitzen oder zumindest zu reiten, was ihm aufgrund fehlender Mittel verwehrt war. Beim Anblick des Pferdes übermannt ihn die Melancholie der verpassten Chancen (wer kennt sie nicht?), er hätte diese Kunststücke selber vollbringen können, womöglich besser als die erwähnte junge Dame.
Er weint nicht nur, er wird sich nach der Vorstellung vor einer der damaligen Dampflokomotiven werfen und seine erbärmliche, ihm nutzlos erscheinende Existenz beenden.
Zweite Hypothese
Der junge Galeriebesucher ist unansehnlich, klein und dick, aber reich. Er hat sich das erste in der Kurzgeschichte beschriebene Szenario gewünscht, um die junge Dame nach der Vorstellung in ihrer Künstlergarderobe aufzusuchen und, nach Art der damaligen Zeit, sich ihre „Liebe“ zu erkaufen. Dieser junge Galeriebesucher, nennen wir ihn „reicher Schwabbel“, ergötzte sich im ersten Teil der Geschichte in seiner Phantasie an seiner billigen Eroberung, sie turnte und vollführte ähnliche Verrenkungen wie zu Pferde auf seinem Stummel, der in Wirklichkeit kaum zwischen seinen Fleischbergen ragen kann, als er vom zweiten Halbsatz der Geschichte, dem zweiten Szenario, kalt erwischt wird, denn nun erhöht sich der Preis, den er für ihre „Liebe“ bezahlen muss, und da er geizig ist, weint er bitterlich.
Dritte Hypothese
Der dritte, junge Galeriebesucher, ein stattlicher Bursche, hoch und schlank, die Damenwelt steht ihm zu Füßen, ein brillanter Kopf, ein Sonntagskind vor dem Herrn, diesen jungen Galeriebesucher aus der dritten Hypothese zeichnet jedoch ein schwerer Makel: Er ist das Vorläufermodell des heutigen Gutmenschen. Der junge Galeriebesucher aus der dritten Hypothese ist vom Ehrgeiz beseelt, zu helfen, zu schützen, er ist ein Rächer des vermeintlichen Unrechts, das er überall wittert und erschnüffelt. Der Trieb zu Helfen dieses jungen Galeriebesuchers aus der dritten Hypothese ist so stark, er ist davon derart ergriffen, dass er aufgrund des im zweiten Halbsatz beschriebenen „Heile-Welt-Szenarios“ heult. Er kann dieses Mal nicht helfen, er kann die junge Dame nicht vor dem bösen Onkel retten, er kann sich keine Ausbeuter- oder gar sexuelle Missbrauchsgeschichte zusammenreimen, ja, er kann noch nicht einmal das dressierte Pferd retten, das wohlgenährt und bestens gepflegt seine Runden trabt.
Der junge Galeriebesucher weint, genauso bitterlich wie der Geizhals aus der zweiten Hypothese, jedoch anders als bei diesem kullern seine Tränen wirklich herunter. Ein bewusstes Weinen, weswegen ich für meine dritte Hypothese den kafkaesken Zusatz „ohne es zu wissen“ geflissentlich überlese. Die gute Deutschlehrerin möge mir diese kleine Freiheit erlauben.
Als Fazit möchte ich anmerken, dass mir alle drei Hypothesen gleich wahrscheinlich erscheinen, weswegen ich keine der dreien hervorheben möchte.
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Hier endet Mort Cinders Aufsatz.
Nachfolgend die Anmerkungen und die Benotung durch die Deutschlehrerin:
Note 6. Aufgrund der enthaltenen Beleidigungen werde ich diese Arbeit dem Schulamt melden.
Gezeichnet
Kirchdorf-Wasserbrunnen
Nachfolgend die Kommentare unseres Freunds Mort Cinder, der uns die Szene des Auftritts der Kirchdorf-Wasserbrunnen nacherzählte: „Erst tobte und schrie sie mich an, dann fiel sie auf ihren Stuhl, stützte Ihr Gesicht auf die Ellenbogen und weinte, ohne es zu wissen.