Digitalisierung / Industrie 4.0

toto

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Liebe Forumsgemeinde,

im Politik-Thread kam vermehrt eine Diskussion zu Digitalisierung und Industrie 4.0 auf. Evtl. könnte das Thema abseits von tagespoltischen Fragen interessant sein. Daher dieser neue Thread, um hier dazu konzentrierter zu diskutieren.
Als Anregung folgende Posts:
So viele Produktionen werden gar nicht mehr in Billiglohnländer verlegt. Einige kommen sogar zurück.
Und mit Industrie 4.0 werden Lohnkosten keine große Rolle mehr spielen. Es werden ja weniger Arbeitskräfte benötigt. Und die müssen qualifiziert sein. Billiglohnländer kommen da eben nicht in Frage. Die Maschinen gibt es auch nicht in den Billiglohnländern. Die müssen sowieso teuer in Deutschland oder anderen hochentwickelten Ländern gekauft werden.
Ich finde die Diskussion interessant.
Was ich skeptisch sehe, ob die gesellschaftliche Entwicklung und die volkswirtschaftlichen Voraussetzungen dieser Industrie-4.0 folgen kann (oder umgekehrt). Die Zukunftsprognosen finde ich zu »positivistisch«. Viele Prognosen werden einfach nur aus vorhandenen Zahlen für die Zukunft hochgerechnet und scheinen unumstößlich. Wir haben noch nicht Lehmann verdaut und sollen an eine goldene Zukunft glauben? Deutschland befindet sich in einem Konjunkturfieber, dass sich im Volksbewußtsein als vollkommen »normal« oder typisch deutsch eingräbt. Lebensversicherungsmathematiker errechnen für die Zukunft durchschnittliche Lebenserwartungen von 100 Jahren und darüber. Wirtschaftliches Wachstum wird als Naturgesetz angesehen. usw. Wer hier alt genug ist, kann sich noch an die Zukunftsprognosen aus den 1960/1970er Jahre erinnern, nach denen wir heute mit einer Rakete auf dem Rücken die grenzenlose Mobilität hätten...
Auf einem ähnlichen Holzweg sehe ich heute die Methodik der Produktforschung und Produktentwicklung.
Ich finde das Thema auch sehr interessant. Nicht nur weil ich auch schon mehr als 30 Jahre in der IT tätig bin. Und Industrie 4.0 ist ja nur ein Teil dessen ist, was man heute unter dem Stichwort Digitalisierung hört. Wobei ich in der ganzen Diskussion noch nicht recht verstanden habe, warum Digitalisierung eher als eine Art Phänomen dargestellt wird, dass es zu stemmen gilt. Es ist ja nicht so, dass die Digitalisierung am 21.3.2019 ausbricht und wir darauf vorbereitet sein müssen. ;) Was die Arbeitswelt angeht ist das doch ein Prozess, den es schon immer gibt, seit es Maschinen gibt. Die Frage dabei ist für mich u.a. wie wir in der internationalen Wirtschaft bestehen können. Also Forschung und Entwicklung, da insbesondere KI oder Quantencomputer. Und auch wie der Maschinenbau aufgestellt ist oder wie das 5G-Netz in Gang kommt.
Das waren nur paar technische Sachen. Es geht dabei natürlich auch um gesellschaftliche Fragen. Nicht nur was uns als Deutschland betrifft, sondern auch global gesehen. Was ist, wenn Nähcomputer die Jobs von Näherinnen in Bangladesh wegnehmen? Das ist zugegeben eine vielleicht schmerzliche, aber ich denke zulässige Frage.
Die Digitalisierung bringt uns aber auch sehr viele Vorteile. Das Forum hier ist ein Beispiel dafür. Wie hätten vor 15 Jahren wohl kaum überhaupt so miteinander kommunizieren können. Und nichts ist heute einfacher, als Informationen aus aller Welt zu bekommen. Das bringt unweigerlich auch einen Kulturwandel mit sich. Der sicher auch seine Schattenseiten hat.
Und was z.B. die KI angeht, sind auch ethische Fragen zu beantworten.
Die Frage ist, ob wir in der Lage sind, das gesellschaftlich in irgendeiner Art zu steuern oder ob wir sagen müssen, das eher Chaos herrscht, insbesondere unter dem Gesichtspunkt, dass Deutschland keine Insel in der Welt ist.
Mag sein, dass das eine oder andere vielleicht zu philophisch klingt. Aber den Vorwurf lass ich gern gelten. :)
 
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"Die neuen Möglichkeiten haben allerdings auch Schattenseiten: „Die Auswirkungen auf die Beschäftigten werden massiv sein“, sagt Baden-Württembergs IG-Metall-Chef Roman Zitzelsberger. „Vor allem für An- und Ungelernte erwarten wir weniger Arbeitsplätze. Deshalb ist es eine große Herausforderung, die Menschen für die neue Produktionswelt zu qualifizieren.“

Das sehe ich auch so, denn ohne Qualifikation wird das nichts.
https://www.handelsblatt.com/techni...l?ticket=ST-12255000-mzb4gfyuMVgSmAx9VKPN-ap2
 
Gut, ich habe keine Ahnung von dem Thema, aber davon ganz viel ... es ist hochinteressant, auch für mich, und um die Diskussion hier ein wenig anzuheizen, gleich mein erster Kommentar (basierend ausschliesslich auf dem Wikipedia Artikel, in welchem ich mir sofort die “Gegenmeinung“ raussuchte ... Provokateur!)

Zudem basiert Industrie 4.0 auf dem Denkfehler, dass ein nicht lineares und soziales System wie eine Fabrik mit Algorithmen steuerbar ist. Das hat noch nie funktioniert und dies wird auch dieses Mal so sein
 
Natürlich wird die Automatisierung immer weiter fortschreiten. Aber man kann (im Moment zumindest) nicht alles automatisieren. Einerseits werden teilweise neue Jobs entstehen, andererseits sehr viele Arbeitsplätze verloren gehen. Es wird (wie bei jeder weitgreifenden Änderung) soziale Verwerfungen geben, die speziell in unserer sehr angespannten Zeit zu weiteren Unruhen führen werden. Deswegen wird auch IMHO kein Weg an einer allgemeinen Grundsicherung (Bürgergeld) vorbeiführen, die natürlich weitere Probleme/Begehrlichkeiten mit sich bringen wird.

Kurz, ein sehr spannendes Thema mit grossem Potential für positive, wie negative Veränderungen.
 
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Natürlich wird die Automatisierung immer weiter fortschreiten.

Das ist ja erst einmal etwas positives. Dadurch wird dem Menschen vieles erleichtert.
Was bedeutet es, das eine Fabrik nicht mit Algorithmen steuerbar ist?
 
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Das "schlimme" an der Sache ist, dass viele - gerade Kleinunternehmer und Mittelständler - das gar nicht raffen, was da alles so passiert.
Ich hab diese Entwicklung - also den Einzug von Software und Hardware - live im Bereich Print und Fotografie miterlebt. Als ich mit dem Studium begonnen habe, da gab es noch eine Druckvorstufe, Repro-Fotografen, Ausbelichter, Fotolabor mit Chemie und so ´n Zeug.
Ich bin da noch mit meinem PDF auf SyQuest-Medium gespeichert in Echt (also Physisch, mein gesamter Körper) zum Ausbelichter gegangen und von dem hab ich mir dann ein paar Tage später, wieder als kompletter Mensch, die Druckfilme abgeholt und mit denen bin ich dann zur Druckerei gefahren.
... heutzutage unvorstellbar. :D
Und habe neidisch auf die geschaut, die sich eine ISDN-Leonardo-Karte leisten konnten, die mussten nicht selber rumfahren.

Im Labor das gleiche. Früher waren so 5 ausgearbeitet Prints machbar pro Tag, heute schaff ich auch 150 am Rechner.

Durch Soft- und Hardware wurden in diesen Bereichen komplette Berufe obsolet und ganze Branchen haben sich in Nichts aufgelöst (siehe Fotofilme, Kodak)

Und diese Entwicklung gibt es und wird es an allen Bereichen geben - und das kapieren die wenigsten.

Weiteres Beispiel: Buchhaltung und Steuererklärungen. Unsere Enkel werden diese Begriffe nur noch dem Hören nach kennen. Ohne weiter auszuholen: auch so gut bezahlte Jobs wie Steuerberater werden genauso überflüssig, wie Fotolaborant oder Druckvorlagenhersteller.

Diese Entwicklungen vollziehen sich in exponentieller Geschwindigkeit, was das menschliche Hirn nicht begreifen kann; wir können nur lineare Entwicklungen nachvollziehen oder abschätzen.

Für alle, die noch ganz unbedarft in diesem Bereich sind kann ich das (überteuerte) Buch "Der stille Raub: Wie das Internet die Mittelschicht zerstört und was Gewinner der digitalen Revolution anders machen" empfehlen - aber wirklich nur jenen, die sich mit dem Thema noch nie ernsthafter damit beschäftigt haben.
 
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Was bedeutet es, das eine Fabrik nicht mit Algorithmen steuerbar ist?

Dass sie es nicht ist, ist ja erstmal nur eine Behauptung.

Ich vermute, das wird so laufen wie in QualityLand: Der Algorithmus hat schlussendlich immer recht. Die Umwelt muss sich anpassen.

Rosa Delfinvibratoren anyone?
 
Als das Thema im Politthread auftauchte, beschlich mich ein ungutes Bauchgefühl, weil der Begriff »Industrie 4.0« auch als Synonym für eine rosige Zukunft gebraucht wird. Sie erspare uns schmutzige und eintönige Arbeit in der Produktion, und der Kunde könne sich in Zukunft ein Produkt ganz nach seinen Wünschen am PC zusammenstupfen, bei der Produktion zuschauen und am nächsten Tag sei es bei ihm zuhause.

Ich sage »Bauchgefühl«, weil ich mich noch nicht tiefer damit beschäftigt habe. Deshalb klingt das Zitat von mir im ersten Beitrag, von toto wiedergegeben, auch entsprechend wirr und unausgegoren. Deshalb kann ich im Moment hier nur nach und nach stichwortartig diese unguten Gefühle beschreiben, und das auch verteilt auf mehrere Beiträge, weil mir die Gedanken zum Thema erst nach und nach ins Bewusstsein kommen. Man sehe mir das bitte nach.

· Die Digitalisierung der Produktion wird »teilen«, aber nicht »verteilen«. Profitieren werden flexible, technikaffine Menschen, meist Jüngere. Es wird eine urbane, gebildete, zukunftsgläubige Gruppe sein, die die weniger werdenden Arbeitsplätze besetzen, und die sich ebenso die zukünftigen Produkte finanziell auch leisten können. Zurückbleiben wird ein Rest, den ich hier jetzt nicht näher beschreiben will (oder kann?).

Später mehr.
 
Es wird eine urbane, gebildete, zukunftsgläubige Gruppe sein, die die weniger werdenden Arbeitsplätze besetzen, und die sich ebenso die zukünftigen Produkte finanziell auch leisten können.

Für mich der Kernpunkt der Diskussion.

Wenn Arbeiter durch Produktionsmaschinen ersetzt werden, verdienen die Arbeiter keinen Lohn und können die von den Robotern erzeugten Produkte nicht mehr kaufen.

Verlierer auf beiden Seiten. :mad:
 
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· »Industrie 4.0« ist für mich kein epochaler Quantensprung, sondern eine fließende Form der Rationalisierung. Die Digitalisierung gibt es ja nicht seit gestern. Der Begriff stammt eher aus der Marketing-Kiste und soll die Wichtigkeit in der Hinsicht hervorheben, dass öffentliche Gelder für die Entwicklung locker gemacht werden. Meiner Meinung nach ist das alleine aber die Aufgabe der Industrie. Das Fließband wurde (damals) auch nicht gefördert, und hat sich trotzdem durchgesetzt.
 
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Ich empfehle in diesem Zusammenhang mal das neue Buch von Richard Dvid Precht: Jäger, Hirten und Kritiker. Eine Utopie einer digitalen Welt". Das beschäftigt sich sehr stark mit dem Wandel der Arbeitswelt und auch der Gesellschaft und den Auswirkungen für die Menschheit.
 
Wenn Arbeiter durch Produktionsmaschinen ersetzt werden,

Das erleben wir schon seit langer Zeit. Ich denke auch nicht, das das etwas schlechtes ist. Wenn man sich die Arbeitsbedingungen in manchen Fabriken anschaut, ist es wirklich besser, den Arbeiter da rauszuholen.

verdienen die Arbeiter keinen Lohn

Das ist der Punkt, auf den alles ankommt. Da wären wir wieder beim BGE. Welche Alternativen gäbe es sonst?
Man kann den Menschen eben nicht vom Profit ausschliessen ...
Auch wenn man neue Arbeitsplätze durch die Digitalisierung schafft, werden es nicht genug für Alle sein.
 
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Für mich der Kernpunkt der Diskussion.

Wenn Arbeiter durch Produktionsmaschinen ersetzt werden, verdienen die Arbeiter keinen Lohn und können die von den Robotern erzeugten Produkte nicht mehr kaufen.

Verlierer auf beiden Seiten. :mad:
Gefährlich, ja dann muss eine "BGE" her.
 
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Ich hab diese Entwicklung - also den Einzug von Software und Hardware - live im Bereich Print und Fotografie miterlebt.
War bei mir auch so. Ich hatte bei einigen Fotoagenturen gearbeitet, die ein großes Diaarchiv hatten. Viele kleine Agenturen konnten den Aufwand des Archivscannens gar nicht mehr stemmen und haben dann um die Jahrtausendwende ihre Bestände gekauft.

Zu diesen Zeiten war es nicht unüblich, dass man dreistellige Lizenzhonorare für ein Stockbild bekommen hat. Heute bewegt sich das durch die Microstockbewegung häufig im Centbereich.
 
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Das Fließband wurde (damals) auch nicht gefördert, und hat sich trotzdem durchgesetzt.

Beim Fließband fing alles an. Der gravierende Unterschied war, die “Arbeit“ wurde zu Dir gebracht, Du musstest Dich nicht mehr zur “Arbeit“ begeben.
Das war wesentlich effizienter, da ein Großteil an Leerlauf wegfiel. Kein Wunder, das sich das durchgesetzt hat. Wikipedia
Gut für den Arbeiter war es allerdings von Anfang an nicht, das hat schon Charlie Chaplin in seinem Film “Moderne Zeiten“ eindrucksvoll dargestellt.
 
Dieses Thema ist schon sehr lange aktuell und nun aktueller denn je - wen's interessiert - schaut mal bei Paul Lafargue nach...
 
Als das Thema im Politthread auftauchte, beschlich mich ein ungutes Bauchgefühl, weil der Begriff »Industrie 4.0« auch als Synonym für eine rosige Zukunft gebraucht wird. Sie erspare uns schmutzige und eintönige Arbeit in der Produktion, und der Kunde könne sich in Zukunft ein Produkt ganz nach seinen Wünschen am PC zusammenstupfen, bei der Produktion zuschauen und am nächsten Tag sei es bei ihm zuhause.

Ich sage »Bauchgefühl«, weil ich mich noch nicht tiefer damit beschäftigt habe. Deshalb klingt das Zitat von mir im ersten Beitrag, von toto wiedergegeben, auch entsprechend wirr und unausgegoren. Deshalb kann ich im Moment hier nur nach und nach stichwortartig diese unguten Gefühle beschreiben, und das auch verteilt auf mehrere Beiträge, weil mir die Gedanken zum Thema erst nach und nach ins Bewusstsein kommen. Man sehe mir das bitte nach.

· Die Digitalisierung der Produktion wird »teilen«, aber nicht »verteilen«. Profitieren werden flexible, technikaffine Menschen, meist Jüngere. Es wird eine urbane, gebildete, zukunftsgläubige Gruppe sein, die die weniger werdenden Arbeitsplätze besetzen, und die sich ebenso die zukünftigen Produkte finanziell auch leisten können. Zurückbleiben wird ein Rest, den ich hier jetzt nicht näher beschreiben will (oder kann?).

Später mehr.

Das ist so, wie es im Buch "Der stille Raub: Wie das Internet die Mittelschicht zerstört und was Gewinner der digitalen Revolution anders machen" von Gerald Hörhan beschrieben wird.

Dies wird nicht aufzuhalten sein.
Es ist nur eine Frage, wie wir damit umgehen. Erwerbsarbeit im Sinne von Geld verdienen damit man sein Leben finanziert, wird es nicht mehr geben. D.h. die Wertschöpfung wird mehr und mehr durch Soft- und Hardware erfolgen.
Und da sind wir wieder bei dem BGE.

Im antiken Griechenland war es ja auch faktisch so. Die Arbeit haben Sklaven verrichtet und der Grieche an sich lebte von Einnahmen seiner Ländereien, Handel. Gut, es gab noch den Stand der Handwerker und Bauern, der fällt auch mehr und mehr weg - ja, auch die Bauern werden überflüssig.
 
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